Helmuth Plessner Preis an Peter Sloterdijk: Das Tier, dem etwas fehlt
Was ist der Mensch? Ein Lebewesen, das etwas verloren hat oder umgekehrt an einem Überschuss leidet? Peter Sloterdijks Dankesrede zum Helmuth Plessner Preis.
Zum zweiten Mal wurde Anfang September der mit 20 000 Euro dotierte Helmuth Plessner Preis der Stadt Wiesbaden verliehen – an Peter Sloterdijk. Mit Helmuth Plessner, Sohn der Stadt, der am 4. September 125 Jahre alt geworden wäre, wird das Werk eines der bedeutendsten Philosophen und Soziologen des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Dessen Arbeiten erfahren dank des bürgerschaftlichen Engagements Einzelner, der großzügigen Geste der Stadt, sowie dem Bemühen der 1999 gegründeten Helmuth Plessner Gesellschaft zunehmende Aufmerksamkeit. Dies betrifft Plessners Beiträge zur philosophischen Anthropologie und insbesondere seine Schriften „Die verspätete Nation“, „Grenzen der Gemeinschaft“ sowie „Lachen und Weinen“. Hier Sloterdijks Dankesrede in einer gekürzten Version.
Es ist guter Brauch, bei der Entgegennahme eines Preises, der nach einer illustren Persönlichkeit benannt ist, den Namensgeber in die Dankesworte des Laureaten gebührend einzuschließen. Auch diese Konvention soll hier befolgt werden, mit der Nuance, dass der Patron des Preises nicht in jedem Satz aufgerufen wird; vielmehr soll er überwiegend durch die Einbettung seines Werks in weitere Zusammenhänge gewürdigt werden.
Man könnte dieses Verfahren die Konstellations-Methode nennen, bei der man von der Wortlaut-Ebene so weit zurücktritt, dass die Schriftzüge des Autors eben noch lesbar sind, indessen seine Thesen als Elemente in einem Sternbild ähnlicher Äußerungen hervortreten, ja zu leuchten beginnen als Punkte in einer Galaxie aus sinnverwandten Sätzen.
Plessner musste keine heroischen Posen annehmen
Die Entdeckung Plessners geschah für mich, als ich mit seinen Beiträgen zur philosophischen Anthropologie bekannt wurde. Von da an hatte ich den Umriss seiner geistigen Gestalt als ganzer vor Augen; ich wusste nun, dass man es mit einem Großen unter den Denkern des 20. Jahrhunderts zu tun hatte – zudem mit einem, der nicht heroische Posen annehmen musste, um Anspruch auf Bedeutsamkeit zu reklamieren. Dies ist der Plessner der Stufen des Organischen und der Mensch, der Plessner der Schriften zur „Conditio humana“, der Plessner von „Lachen und Weinen“. Es erübrigt sich, hier näher zu erklären, warum mir Plessners Thesen zur exzentrischen Positionalität des Menschen besonders einleuchteten.
Wie sollte man nicht von einer Theorie angezogen sein, die das Phänomen der Marginalität auf die höchstmögliche Stufe hob, indem sie den Menschen prinzipiell zu einer Randexistenz der Tierwelt, ja zu einem ontologischen Aussteiger erklärte? Während man in konservativen Kreisen über den „Verlust der Mitte“ lamentierte, unterzog Plessners Reflexion den vorgeblichen Verlust einer entschiedenen Neutralisierung. Sie erläuterte den Nachteil der Exzentrierung als den Vorteil, an keine Mitte angepflockt zu sein, und machte aus dem positionellen Außer-sichsein des Menschen sein wesentliches Bestimmungsmerkmal.
Die Freimütigkeit des Manövers erinnert an die Kühnheiten von Kant und Schiller, die beide den biblischen Mythos von der Vertreibung Evas und Adams aus dem Paradies kaltblütig ins Positive gewendet hatten: Sie scheuten sich nicht, die Geburt der Kultur aus dem Geist der Unbequemlichkeit zu zelebrieren, ja, sie lobten den Engel mit dem Schwert, der die Ureltern der Menschheit aus dem Halbschlaf des gleichmäßigen Glücks verjagte. Als sich die Türen des Paradieses hinter den Flüchtenden schließen, fängt die Geschichte der Freiheit an. In den immerwährenden Tropen des Wohlbefindens wäre der Mensch nie und nimmer zu Fleiß und Industrie oder zu Wissenschaft und Waffenlärm erwacht.
Das Mängelwesen Mensch
Es spricht einiges dafür, die biblische Erzählung vom Paradiesverlust als den eigentlichen Anfang der okzidentalen Reden vom Menschen zu bezeichnen. Sie stellt gewiss noch keine Anthropologie im bestimmteren Sinn des Worts dar, doch setzt sie gleich am Anfang den Akzent auf den Umstand, dass der Mensch ein Wesen sei, das einen frühen Ortswechsel zu überstehen hatte. Man kann seine Lage nicht würdigen, wenn man nicht auf das Trauma eines ursprünglichen Umzugs Rücksicht nimmt: In seine Psyche ist eine topologische Differenz eingeprägt, die von Paradies und Nicht-Paradies – eine Differenz, die bei den einzelnen eine mehr oder weniger tiefe Narbe bildet. Der Mensch ist das Lebewesen, das etwas verloren hat. Als einer, der den Verlust spürt, bleibt er konstitutionell suchend, und wenn nicht mehr suchend, oft Beute von Depression.
Von diesen Überlegungen ausgehend möchte ich im Folgenden an einige Motive alteuropäischer Reden vom Menschen erinnern, von denen sich cum grano salis sagen lässt, dass sie die Plessner’sche Denkfigur der exzentrischen Positionalität vorwegnehmen, umspielen, variieren, amplifizieren und bestätigen. Es gehört zu den Merkmalen der philosophischen Anthropologie, nicht zu originell sein zu wollen. Gerade für sie kommt es darauf an, im Kontinuum des impliziten und alltäglichen Wissens von ihrem „Gegenstand“ (im Idealismus hätte man gesagt: von ihrem „Subjekt-Objekt“) zu verbleiben.
Die meisten Reden vom Menschen kommen von alten Tagen an darin überein, dass sie in ihm das Tier sehen, dem etwas fehlt. Sobald man sich bereit macht, über den Menschen eine allgemeine Aussage zu treffen, ist man schon auf das Terrain der Anthropo-Pathologie geraten. Ich möchte meine These, wonach die allgemeineren Reden vom Menschen von alters her anthropo-pathologisch angelegt sind, also mit Blick auf das Mängelwesen Mensch, unter Berufung auf einige Zeugen aus Antike und Neuzeit illustrieren – namentlich Sophokles, Platon, Augustinus, Cusanus, Herder. Mit einigen kurzen Worten zu Plessners Stellung im Kreis zeitgenössischer Kollegen wie Max Scheler, Ernst Cassirer und Arnold Gehlen möchte ich dann zum Schluss kommen.
Platon ist Fürst der ewigen Anthropo-Pathologie
Eine wichtige Etappe des flüchtigen Parcours, der Plessners Theorem von der exzentrischen Positionalität des Menschen in einen ideenhistorischen Zusammenhang platzieren soll, führt – unumgänglich – zu Platon. Er ist der Fürst der ewigen Anthropo-Pathologie, sofern er den Menschen als das Wesen beschreibt, das das Beste vergessen hat. Bei ihm finden wir die Wurzeln der Entfremdungstheorien, ohne die die alteuropäische Ideengeschichte nicht zu denken wäre.
Die fast unwiderstehliche Überzeugungs- oder Verführungskraft platonischer Denkweisen, wie sie sich in unserem Weltkreis seit zweieinhalbtausend Jahren manifestierte, wenn auch seit rund zweihundert Jahren mit geschwächter Wirkung, beruht auf einer Verschmelzung von idealistischer Logik und erhabener Erotik. Sie suggeriert, man könne sich durch konsequentes Denken und besonnenes Lieben von der Kränkung des Geborenseins erholen.
Ein Geschöpf, das im Zuviel zu Hause ist
Für lange Zeit liegt das Konzept „Erbsünde“ über allen alteuropäischen Debatten, die conditio humana betreffend. Die christliche Sprache hat die Zügel fest in der Hand, wenn es gilt, zu sagen, was mit dem Menschen nicht stimmt. Von Augustinus bis Luther und Calvin folgt die alteuropäische Anthropo-Pathologie durch zahllose Variationen hindurch dem gleichen Schema. Der Mensch, unheilbar korrupt, kann sich durch keine irdische Kur sanieren; seine eigene Anstrengung ist ein notwendiges Mittel zum Heil, aber kein zureichendes. Er muss durch einen Wunderarzt von oben gerettet werden. Dessen Therapie heißt Erwählung zur Mitgliedschaft in der Schar der Erlösbaren. Die Kirche ist die Vorhalle zur Gemeinschaft der Heiligen; ob jemand bis zur Haupthalle vordringt, bleibt ungewiss.
Als schließlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die umfangreichen Sprachspiele auftauchten, die wir bis heute der neuen Gruppe der „Anthropologie“ zurechnen, blickt das alteuropäische Gespräch über den Menschen auf eine mehr als zweitausendjährige Tradition anthropo-pathologischer Aussagen zurück. Herder, neben Kant einer der Gründerväter der neuen Disziplin, kann sich in seinen Überlegungen zum Ursprung der Sprache und zur Universalgeschichte der Menschheit auf ein Archiv von Äußerungen stützen, die die Krankenakte des homo sapiens bilden.
Das Kompensations-Argument bildet den roten Faden, der über die Epochen hinweg Protagoras mit Herder, Freud und Gehlen verbindet. Sie alle reden als Anthropo-Pathologen, die im Menschen an erster Stelle das Merkmal der biologischen Schwäche erkennen. Daraufhin entwickeln sie die Annahme, wonach die ursprüngliche Wehrlosigkeit sich in eine bedenkliche Kraft zum Gegenangriff verwandelt. Hierdurch wird den traditionellen Leiden des Menschen an seiner Ohnmacht ein Unbehagen an den Folgen seiner Übermacht hinzugefügt.
Eine neue Transzendenz, deren Dimension die Weite ist
Nun nähern wir uns dem kritischen Augenblick, in dem sich der Sinn der Plessner’schen Zäsur innerhalb der Reden vom Menschen im Allgemeinen verdeutlichen lässt. Mit seiner Wendung von der „exzentrischen Positionalität“ des Menschenwesens scheint er fürs erste zwar an den Sprachspielen anzuknüpfen, die den Menschen kennzeichnen als das Wesen, dem etwas fehlt. Gleichwohl macht es die produktive Ambivalenz des Exzentrik-Begriffs aus, dass er offenlässt, ob er von einer „Kreatur“ spricht, die vom Mangel gezeichnet ist, oder ob er nicht vielmehr von einem Wesen redet, das Mühe hat, mit einem in ihm selbst angelegten Überschuss zurechtzukommen.
Ich würde so weit gehen zu behaupten, nach Feuerbach habe Plessner den zweiten Schritt zur Re-Interpretation der Transzendenz getan. Während Feuerbach mit einigem Pathos zeigen wollte, wie der bisherige Mensch das Summum seines eigenen Wesens an den Himmel projizierte, um sich danach vor den fixierten Resultaten seiner Projektionen zu verbeugen, begnügt sich Plessner mit dem Nachweis, wie der Mensch sein überschüssiges Potential gewissermaßen neben sich in die Ebene projiziert. Er entdeckt, gleichsam beiläufig, eine zweite Transzendenz, deren Dimension die Weite ist. Sie wird durch den Ambitus der Selbstreflexion bestimmt; in ihr kann der Mensch aus näherem oder größerem Abstand auf sich zurückkommen.
In diesem Sinn wäre zu sagen, die philosophische Anthropologie Plessner’schen Stils sei eine Theorie der Horizontaltranszendenz. Als Wesen in exzentrischer Position wird der Mensch sich selbst zum Problem, weil er nicht wie die Christus-Kugel gerade auf sein Ziel zurollen kann, sondern wie die torkelnde Kusanus-Kugel sich in Seitenbewegungen verliert. Solche Möglichkeiten lateraler Evasionen und ihrer Korrekturen sind gemeint, wenn gesagt wird, der Mensch „lebt“ nicht einfach dahin, er muss sein Leben „führen“. Er ist nicht notwendigerweise „nach oben“ orientiert, wie man in metaphysischen Kontexten sagen würde, er transzendiert in die Weite der naheliegenden und fernliegenden Zonen auf seiner eigenen Ebene. Lapidar gesprochen; Sterben (noch oben) ist gut, lernen (in der Ebene) ist besser.
Plessners Werk ist eine einzige Meditation über die Selbstfragwürdigkeit, die der Mensch im Stress des Dasein-Sollens entdeckt. Seine Aufgabe ist es, den Riss im Kreis mit Mitteln zu heilen, die in der Vorläufigkeit zu finden sind.
Der Mensch als Wesen, das unter Formatspannung steht
Es schiene mir unpassend, wollte ich hier die Stellung meiner Arbeiten zu denen der klassischen Werke der philosophischen Anthropologie ausführlicher erläutern. Wer sich mit meinen Schriften befasst hat, namentlich mit der „Sphären“-Trilogie, wird wissen, dass ich darauf verzichtet habe, vom „Menschen“ in direkter Rede zu sprechen – die Zeit solcher pathetischen Kollektiv-Singulare scheint mir vorüber zu sein. Die Helden meiner Geschichte sind die Räume – nicht Räume im Sinne der geometrischen Lehrbücher, der Kataster und der politischen Geografie, sondern die Räume, die durch die Einwohnung von Menschen in ihnen aufgehen. Sie werden von ihren Einwohnern geformt und formen ihre Einwohner. Wenn meine Arbeit in der Geschichte der philosophischen Anthropologie einen Paragrafen verdient, der das Werk der genannten Autoren, soweit man sie als „Vorgänger“ ansehen kann, weiterschreibt, so vielleicht, weil mein Thema „Raum und Mensch“ tatsächlich diesem Typus von Theoriebildung angehört, so nahe wie möglich, so entfernt wie nötig.
Das „Sphärenwerk“ bildet kein neues Kapitel in der Tradition der alteuropäischen Anthropo-Pathologie. In ihm erscheint der Mensch nirgendwo als Mängelwesen. Es ist ein Wesen, das unter Formatspannung steht. Während die klassische Rede vom Menschen ihn als ein Wesen portraitiert, das zu wenig hat und dazu verurteilt ist, den Mangel zu kompensieren, erscheint er in meinen Beschreibungen als ein Geschöpf, das im Zuviel zu Hause ist - und oft nicht weiß, wohin es seinen Überschuss abgeben soll.
Um dies am naheliegendsten Beispiel zu erläutern: An diesem Abend weiß ich nicht recht, wohin mit meinem Dank. Ich halte mich naturgemäß zunächst an die naheliegenden Adressen: die Helmuth Plessner Gesellschaft und die Stadt Wiesbaden, aber seien Sie versichert, meine Damen und Herren, der Dank zieht einen weiteren, vermutlich exzentrischen Kreis.
Peter Sloterdijk
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