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Man ist immer das Kind seiner Eltern, auch als Künstler. Christoph Schlingensief im Skiurlaub, 1966.
© Kiepenheuer & Witsch/privat

Christoph Schlingensiefs Autobiografie: Das sechsfach belichtete Kind

Wie wurde Christoph Schlingensief zu Christoph Schlingensief? Zwei Jahre nach dem Tod des Alleskünstlers erscheint die Autobiografie „Ich weiß, ich war’s“, herausgegeben von seiner Gefährtin Aino Laberenz. Hier seine Erinnerung an die kinematografische „Urszene“.

Er fehlt. Vor zwei Jahren ist Christoph Schlingensief gestorben, nur 49 Jahre alt. Und hat doch ein gewaltiges Werk hinterlassen, zu dem Filme, Theater- und Opernereignisse, Aktionen gehören. Vor allem seine Emotionalität wirkt fort. In seinen beiden letzten Lebensjahren, vom Lungenkrebs gezeichnet, hat er Texte geschrieben, diktiert und gesammelt, die den großen autobiografischen Bogen schlagen, von Oberhausen nach Bayreuth, von Berlin nach Burkina Faso, wo das von ihm mit so viel Herzblut initiierte Operndorf tatsächlich Gestalt angenommen hat. Aino Laberenz, seine Frau, seine Kostümbildnerin, hat in liebevoller Genauigkeit dieses Buch zusammengefügt: „Ich weiß, ich war’s“. Sie sagt: „Auf Christophs eigene Art ist es ausufernd – und bescheiden.“ Das bestätigt sich auf den knapp 300 Seiten. Sie sind unterhaltsam, pointiert, schmerzhaft. Bald dreißig Jahre Kunst, Kultur, Politik, Lebensgefühl ziehen vorüber, und wie wäre das bei Schlingensief auseinanderzuhalten gewesen! Das ist es, was heute fehlt: dieser Anspruch, dieser Witz, dieser Zugriff aufs Ganze, den er stets versucht hat. Das Buch, das auch privates Fotomaterial enthält, erscheint am 8. Oktober im Verlag Kiepenheuer & Witsch und kostet 19,99 Euro. Wir drucken hier vorab ein Kapitel vom Anfang, aus der Kindheit im Ruhrpott, und ein Kapitel vom Ende, Eindrücke einer Reise nach Nepal. Es ist berührend, wie sich manches zu fügen scheint, weil ein viel zu früher Tod es so wollte. (Tsp)

Ich denke, angefangen hat alles 1968, als all diese wahnsinnig engagierten und unglaublich sportlichen Leute unterwegs waren. Im Jahr der Revolution, die uns immer noch beschäftigt und die scheinbar nie, nie zu Ende geführt werden kann: Ich war acht Jahre alt und mein Vater hantierte mit seiner neuen Doppel-8-Kamera herum, machte Aufnahmen beim Familienspaziergang, im Sommerurlaub am Strand von Norderney, bei Bauer Mewes im Sauerland, überall, wo wir unterwegs waren.

Das sah für die Leute, die damals der Familie Schlingensief begegneten, wahrscheinlich ziemlich merkwürdig aus. Nach 15 Sekunden musste mein Vater nämlich die Kamera immer wieder aufdrehen, um weiterfilmen zu können. Meine Mutter und ich liefen also irgendwo in der Landschaft herum, mein Vater mit der Kamera hinter uns her. Nach 15 Sekunden rief er „Stopp“, wir blieben stehen und warteten, mein Vater kurbelte, dann hieß es „Jetzt“ – und wir konnten weitergehen. Meine Mutter und ich alle 15 Sekunden in der Erstarrung, dann wieder Bewegung, dann wieder Erstarrung, und mein Vater schraubte die ganze Zeit wie ein Wilder an seiner Kamera. Das hatte etwas von dieser Abenteuer-Kinderserie mit dem Bumerang. Das weiß ich noch, da konnte ein Junge mit seinem Bumerang die Welt zum Stillstand bringen. Immer wenn der Bumerang hochflog, war alles eingefroren. Und der Junge konnte losrasen und die Täter festnehmen. Ich fand’s großartig.

Mit einer Doppel-8-Kamera zu drehen, bedeutete auch, dass erst eine Hälfte des Films belichtet wurde, später im Rücklauf dann die zweite. Wenn die erste Hälfte belichtet war, musste man also irgendwohin gehen, wo es dunkel war – unter die Bettdecke oder aufs Klo, egal, Hauptsache, dunkel –, und die Filmspule umlegen, um die zweite Hälfte zu belichten. Dann packte man die Spule in eine Tüte, schickte das Ganze zu Kodak zum Entwickeln – und nach 14 Tagen kam der Film zurück, in der Mitte längs durchtrennt und beide Teile aneinandergeklebt. Und schließlich knatterte dieser Film durch den Projektor, der ja eine feste Bahn vorgibt, von oben nach unten, und hinten wieder raus – ungefähr ein Lebensweg, würde ich sagen. Nur dass es wie im Leben ziemlich mühsam ist, dieser Bahn zu folgen, die Fehlerquellen auszuschalten oder Stillstand zu verhindern: Die Schärfe muss man nachdrehen; möglichst ohne Dreck muss das Ganze ablaufen, da darf kein Flusen reinhängen, sonst hakt’s, kein Fixiersalz mehr auf der Spule kleben, sonst stinkt's und raucht; man muss auf den Bildstand aufpassen, damit nicht plötzlich der Kopf unten und die Beine oben sind, und, und, und – viel hat die Filmtechnik mit dem Leben zu tun.

Der Filmprojektor hatte mich immer schon interessiert, aber endgültig infiziert war ich, als wir eines Tages dasaßen und einen Film sahen, der doppelt belichtet war. Mein Vater war wohl so euphorisch gewesen mit seiner Kamera, dass er die Spule unter der Bettdecke in diesem Fall zweimal umgelegt hatte. Da kommt also nach 14 Tagen der Film zurück, die Familie sitzt im Wohnzimmer, Vorhänge zugezogen, alle sind aufgeregt und schauen erwartungsvoll auf die Leinwand, der Projektor wird vorgewärmt, beginnt zu knattern und zu stinken, es geht los: Ich sehe, wie meine Mutter und ich am Strand liegen – aber über unseren Bauch laufen plötzlich Leute. Das heißt, irgendwelche anderen Personen laufen über uns drüber bzw. durch uns durch. Ich weiß noch, dass ich begeistert war: „Aber wieso? Da waren doch keine anderen Leute am Strand! Wir haben irgendwo Milchreis mit Zimt und Zucker gegessen und sind dann zum Strand gegangen, klar, das stimmt, aber da waren definitiv keine anderen Leute …“ Mein Vater hat’s mir dann erklärt.

Man war damals als Kind ja noch nicht so geschult wie heute, gerade mal drei Fernsehsender gab’s. Der eine hatte ein verrauschtes Bild mit Ton, der zweite Bild, aber keinen Ton und der dritte Kanal hatte beides, aber permanente Störungen. Einmal durfte ich einen Boxkampf im Fernsehen sehen, da soll ich vier gewesen sein. Meine Mutter war in der Küche, ich saß im Wohnzimmer und sah zu, wie die Männer aufeinander einschlugen. Als einer der beiden k.o. war, habe ich angeblich den Fernseher ausgemacht und zu meiner Mutter nur gesagt: „Mann tot, Fernseher aus.“ Wochenlang habe ich kein Fernsehen mehr geguckt, weil der Mann ja k.o. war, also weg, nicht mehr auf Sendung sozusagen. Auch ein Zentralerlebnis, weil bei „Dick und Doof“, bei Charlie Chaplin alle K.-o.-Geschlagenen sofort wieder aufstanden. Genauso bei „Tom und Jerry“. Da standen selbst die Explodierten wieder auf oder die von Steinplatten Plattgekloppten. Also was war denn nun die Wahrheit? Wie ging das alles zusammen?

Und dann die Leute auf meinem Bauch, ganz klar zu sehen, aber nicht wirklich real. Genau 1968 fand im Filmmaterial für mich die Revolution statt, die Revolution der Irritation. Ich glaube, von da an fing das an mit den Fragen: Was ist denn da los? Was stimmt denn da nicht? Und später dann: Was ist, wenn das gar kein Fehler war? Wenn wir in Wahrheit alle doppelt, dreifach, vierfach belichtet werden? Wenn das Leben der Hauptdarsteller ist, der unsere Pläne ständig durchkreuzt, der unsere Ideen, wie unser Leben sein müsste, permanent hintertreibt? Und wir alle wahnsinnig damit beschäftigt sind, diese Mehrfachbelichtungen und Überblendungen zu ignorieren bzw. zu bekämpfen, statt sie produktiv zu nutzen?

Natürlich habe ich mir diese Gedanken nicht alle mit acht Jahren gemacht. Aber dieses Bild von meiner Mutter und mir mit den anderen Leuten auf unseren Bäuchen fällt mir immer wieder ein, wenn ich darüber nachdenke, was mich im Leben und in der Kunst antreibt. Vielleicht ist dieser Moment meine Urszene, da habe ich begriffen, dass das hier auf der Welt nicht ganz so problemlos laufen wird, wie wir uns das im Mutterleib vorgestellt haben. Da hat's geblubbert, man wurde geschaukelt – manchmal ziemlich heftig geschaukelt, Irritationen gab's da sicher auch schon genug –, aber insgesamt lief es doch vermutlich relativ unkompliziert. Und dann irgendwann der Knall, man rutscht raus, startet ins Leben, rast los, hierhin, dahin, und irgendwann stellt man fest: Man wird nicht der, der man sein wollte, man kann es gar nicht werden, weil die Unschärfe ins Spiel kommt und man permanent neu belichtet wird. Oder weil man schon vorbelichtet ist, wenn man loslegen will. Wir gehen nicht unbelichtet in die Dinge, da bin ich sicher. Ich zum Beispiel musste für meine Eltern sechs Kinder darstellen. Ich hatte zumindest immer dieses Gefühl, weil meine Mutter und mein Vater eigentlich sechs Kinder haben wollten, es aber erst nach neun Jahren geklappt hat. Das heißt also: Neun Jahre Rumrödeln im Bett, dann kam ich endlich auf die Welt, danach wieder Rumrödeln, aber da kam dann niemand mehr. Ich bin also seit 1960 auf der Welt und habe den Auftrag, sechs Kinder darzustellen. Sechs Personen in mir am Start, die bis heute tun und machen – eine sechsfache Belichtung, eine Totalschizophrenie.

Das ist natürlich mein eigenes Problem, wahrscheinlich hat nicht jeder mit sechs Leuten in sich zu kämpfen. Aber ich glaube trotzdem fest daran, dass diese Ebenen in uns allen schlummern, dass wir alle nicht so scharf umrissen und stabil gebaut sind. Daher ist diese Mehrfachbelichtung im Film der Hit, finde ich. Dass es ein Medium gibt, wo Sachen zusammenkommen können, die gar nicht zusammengehören, wo neue Bilder entstehen können, ist absolut großartig.

Eine Absicht bei den ganzen Sachen, die ich gemacht habe, fällt mir immer wieder auf, wenn ich da so liege und nicht aus dem Bett darf oder kann. Ich glaube, vor allem wollte ich das Unsichtbare sichtbar machen. Wenn’s gut lief, hatte man plötzlich das Gefühl, man sieht etwas.

Auch wenn ich die Idee der Transformation immer heftig propagiert habe, seit der Krankheit habe ich wirklich massive Probleme damit. Als ich Anfang 2008 in Bhaktapur war – das war eine Woche, bevor ich den Befund bekam – , war ich ja noch auf der Suche nach solchen Orten, die als eine Art Transformationskasten funktionieren. Bhaktapur kann ich diesbezüglich auch wirklich sehr empfehlen, da wird man wahnsinnig vor lauter Transformation. Da kreisen die Götter und Geister in einer Art und Weise durch die Gegend, wie wir Monotheisten und Atheisten uns das nicht vorstellen können. Wir bleiben ja letzten Endes vorm Alter oder vorm Kapital stehen, schauen gebannt hoch und warten auf die Geldscheine oder die Zungen oder auf irgendwelche anderen Momente von Erleuchtung. Und meist schlafen wir beim Warten einfach ein. Aber durch den Altar durchlaufen, das trauen wir uns nicht.

Wenn wir das Talent der Leute aus Bhaktapur hätten, würden wir durchlaufen. Da finden Sie kleine Löcher in der Wand, wo der Geist durchfliegt. Wenn der Nachbar drüben diesen Geist von Ihnen nicht mag, schiebt er seinen Schrank davor. Das ist etwas, was die Leute dort tatsächlich spüren. Sie fragen sich, was ist hier los, irgendwas stimmt hier nicht, gucken da rein und sehen, dahinten ist gar kein Licht mehr, also hat jemand etwas davorgehängt. Und dann geht man die Nachbarn besuchen, lernt die kennen, spricht über das Problem, und anschließend wird der Schrank meist auch wieder weggeräumt.

Das Hospiz in Bhaktapur ist auch interessant: Da hat man drei Tage zum Sterben, wenn man dann nicht tot ist, muss man wieder nach Hause. Falsches Timing. Im selben Haus gibt's auch ein Zimmer, in dem die Frauen ihre Kinder gebären. Und es laufen Horden von Affen rum. 200, 300 Affen rasen immer wieder wie irre den Tempelberg runter, hüpfen über die Flussbrücke und auf der anderen Seite des Ufers wieder rauf. Dort ist der Treffpunkt der Paare, die sich vom Brahmanen für die Hochzeit einweisen lassen. Also alles ganz eng miteinander verwoben: Geburt, Leben, Liebe, Tod. Und dann noch die Verbrennungen. Je nach Vermögen gibt's mehr oder weniger Holz. Die Reichen haben sehr viel Holz und verbrennen sehr üppig, werden vorher noch mit Farbe beworfen und mit Blumenkränzen geschmückt. Entzündet wird die Leiche am Mund, da wo der Atem rauskommt.

Bhaktapur hat mich wirklich irre gemacht. In meiner Kitschbirne hatte ich mir natürlich ausgemalt, die Hinduisten seien irgendwie freier. Aber in Wahrheit sind sie so was von unfrei, weil sie die ganze Zeit beschäftigt sind mit ihren Hunderten von Göttern. Schon um fünf Uhr morgens geht’s da los mit der Betriebsamkeit: Da wird gebimmelt, Telefonnummer von diesem Gott, Telefonnummer von jenem Gott, da wird gerannt, Reis hierhin, Reis dahin, Farbe drauf, möglichst noch ein paar Reiskörner vor die Tür der Nachbarn, als Geste des Danks. Dann geht's zur Arbeit, aber da wird auch schon wieder gesammelt für das nächste Fest oder für die nächste Verbrennung, dann noch zu dieser Zeremonie und zu jener. Eigentlich sind die da in einem permanenten Rauschzustand. Und dieser ganze Wahn, der da drinsteckt, ist natürlich auch ein Grad von Unfreiheit. Also ich glaube, die wirkliche Erlösung ist, nicht zu sagen, wir transformieren uns dann nachher, also wir sterben, dann werden wir transformiert und sind dann im Himmel.

Ich habe überhaupt keine Lust, in den Himmel zu kommen. Ich hab noch nicht einmal Lust, meinen Vater zu treffen. Ist vielleicht komisch, aber ich stell's mir fast unangenehm vor, ihn zu treffen. Weil es doch wichtig ist, dass man auch mal ohne Eltern ist. Nicht, dass meine Mutter jetzt sterben soll, aber ich sag es trotzdem: Es wäre vielleicht ganz gut, wenn man mal das Gefühl hätte, frei zu sein. Ohne diese ständigen Zurechtweisungen, ohne all meine Rechtfertigungsversuche.

Um die Geschichte noch zu Ende zu führen: Am Anfang hat mein Vater (...) immer vorgespult zu den Landschaftsaufnahmen, sodass meine Mutter irgendwann dachte, ich sei Dokumentarfilmer. Was war da los? Was ist da passiert? Ich weiß es ja nicht.

Und kann man jetzt noch etwas tun?

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