Kultur: Das sanfte Jenseits
Aki Kaurismäkis Meisterwerk „Der Mann ohne Vergangenheit“ erzählt von Menschen am Rande der Welt – und einer leisen Liebe
Der Schwerverletzte liegt da, sein Kopf eine Kugel aus Mull, und Arzt und Schwester warten auf das Ende. Besser so, wenn er stirbt, raunt der Arzt, und meint damit all die armen Schlucker, die irgendwann verdreckt und blutüberströmt auf dem Bahnhofsklo liegen. Und schon versiegt das zitternde Lebenszeichen auf dem schwarzen Grund der Maschine, das Totsein ist ein langer grüner Strich. Machen Sie ihn fertig für den Kühlraum, sagt der Arzt, ich muss rüber in die Säuglingsstation. Die Schwester deckt die Leiche zu und verlässt den Raum. Doch plötzlich, nach einer Schrecklosigkeitssekunde, richtet der Vermullte sich im Bett auf, reißt sich den Verband auf und die Schläuche vom Körper. Alles zu Ende, endlich, und alles fängt an.
Die Situation, fast zu Beginn des Geschehens, könnte einer jener schwarzen Gags sein, mit denen Aki Kaurismäki seine Filme seit jeher würzt, Pointe einer karg komponierten Szene, Fermate seiner unverwechselbaren Lakonie. Aber sie ist kein Gag, sondern sein Gegenteil: Initiation in einen Film, wie ihn Kaurismäki noch nie so durchdringend sanft, so schmerzhaft zart, so klarsichtig herzerwärmend zu Ende gedacht hat. Alle seine Werke führen schnurstracks in kurios ausgestattete Paralleluniversen, aber sie sind dem Zuschauer sofort lebendig vertraut. „Der Mann ohne Vergangenheit“ aber, dem Kaurismäki nur für die Credits augenzwinkernd den Namen „M“ verleiht, erzählt von einem lebendigen Totenreich.
Dieser wundersam Selbsterrettete ohne Vergangenheit mag eine Gegenwart und sogar eine Zukunft haben, aber sie sind nicht von dieser Welt. Fast alle Menschen, mit denen er zu tun bekommt – oder sind es Gedankenfiguren? – stammen nur zum Schein von dieser Welt. Und der Film selbst, der schönste Kaurismäkis und der mit Abstand schönste dieses Kinojahrs, in seiner geradezu überirdischen Spannweite zwischen Einsamkeit und Freude, zwischen Verlassenheit und Liebe, zwischen Himmelskälte und Menschenwärme: Auch dieser Film ist nicht von dieser Welt.
Der Mann ohne Namen hat sein Leben wieder, aber er hat sein Gedächtnis verloren. Er ist mit einem Zug gefahren, im Dunkeln, mehr weiß er nicht. Den Überfall, dem er auf dem Bahnhof von Helsinki zum Opfer fällt und den Kaurismäki in aller Härte zeigt, erinnert er nicht. Das Leben aber, in das er eintritt, nimmt ihn auch ohne Namen. Es ist bevölkert von selber Namenlosen, Wegradierten der sogenannten Zivilgesellschaften, die in Müll- oder sonstigen Containern der Stadtbrache hausen. „M“ also – nennen wir ihn so, wie Kaurismäki ihn nennt, um Markku Peltola danebenzuschreiben, dieses stille, sprechende Nachfolgegesicht des unvergessenen Matti Pellonpää – „M“ wird aufgenommen von einer Familie, deren zärtlich inszenierte Armut einen Augenblick lang an die Bilder des italienischen Neorealismus erinnert. Doch Vorsicht, es ist eher eine Para-Realität, in der „M“ alsbald Wohnung nimmt, im Container nebenan. Dort ist letzten Winter ein anderer dieser armen Schlucker erfroren.
Erst ist es die gute, alte Aufsteigergeschichte, die Kaurismäki mit einem müden Lächeln zu zitieren scheint: Wie einer, der alles verloren hat, sich von ganz unten wieder hocharbeitet ins Helle. Wie er den Container entmüllt, mit Tisch, Bett, Herd und sogar Musicbox; wie er seinen Wucherer von Vermieter, einen dickdummdreisten Himmelhöllenportier mit rasselndem Schlüsselbund, beharrlich in die Schranken weist; wie er bei der Heilsarmee bescheiden Aushilfsarbeit findet und bald deren triste Kapelle zur munteren Rock’n’Blues-Combo umerzieht (Kaurismäkis „Leningrad Cowboys“ lassen von ferne grüßen). Eigentlich aber lebt „M“ sich nur ein in seinem zweiten Leben, nimmt, was er kriegt, peilt keine Richtung an. Und irgendwann kriegt er, das kann nicht ausbleiben bei so viel selbstverständlicher Sanftmut, die Liebe.
Kaurismäkis ewige Heldin Kati Outinen, glühend und blühend und welkend und weiter blühend und glühend, spielt die Heilsarmistin, um die „M“ zu werben beginnt: eine lebendig in ihrem Zimmerverschlag an den Bahngleisen Begrabene, die vorm Einschlafen – ihre einzige Sünde – ein paar Takte Rock’n’Roll aus dem Transistorradio hört. „Sie haben mir einen Kuss gestohlen“, sagt sie, als „M“ ihr ein Küsschen gestohlen hat eines Abends, und berührt ungläubig die eigene Wange. Und später, in seinem Container, wird sie an einem vollends verbrannt-versalzenen Essen, das er ihr zubereitet hat auf seine unaufgeregt feierliche Weise, die angewärmten Erbsen aus der Dose loben. Die ebenso scheue wie zielstrebige Annäherung der Beiden, die stille Tiefe, die sie von Anfang an verbindet: Das spricht für eine der großen Liebesgeschichten der Kinogeschichte.
Das sogenannte Leben
Eine Bewährungsprobe aber muss „M“ denn doch bestehen, weil seine zweite Existenz ohne die Überwindung der ersten nicht denkbar ist. Nur ist die Brücke zwischen beiden kaum begehbar. Merkwürdig kalt und tot erscheinen die Sozialamtsmitarbeiter, die Personalbüromenschen, bei denen „M“ eine Rückkehr ins sogenannte Leben probiert. Und wunderbar geschützt vor ihnen erscheint er bald, denn sie brauchen, als Passwort in ihre Welt, immer einen Namen oder zumindest die Sozialversicherungsnummer. Für einen langen Augenblick – Kaurismäki inszeniert ihn sublim und ökonomisch wie jede Szene dieses Films – kommen beide Welten irgendwann doch zusammen, und „M“ lernt noch zwei weitere, eigentümlich abgestorbene Leute kennen. Wir erfahren seinen richtigen Namen, seinen Beruf, seinen Wohnort, seinen Familienstand. Und sind doch längst in seine Welt hinübergewechselt: Denn all diese Dinge und Menschen sind uns so fremd wie ihm selber.
Tot sind die Lebenden und lebendig die Toten in Kaurismäkis „Mann ohne Vergangenheit“, und die Toten schauen auf die Lebenden mit jener Freundlichkeit und Nachsicht, wie sie nur Tote mit uns Lebenden haben können. Sie sind nicht so einsame Gäste in der übrigen Wirklichkeit wie etwa Bruce Willis in „The Sixth Sense“ oder Tom Cruise in „Vanilla Sky“; sie sind auch nicht auf Bewährung zurück für eine gemessene Zeit wie in „Das Spiel ist aus“, Jean Delannoys Versuchsanordnung nach Sartre; und sie sind auch keine schwankenden Schauergestalten wie in „Die Nacht der lebenden Toten“ (mit Ausnahme einer heiteren, fast choreografischen Anspielung). Nein, sie sind einfach da. Wir können sie sehen. Wir könnten sie sehen. Aber wir übersehen sie eben, wie sie neben uns herleben auf dieser seltsamen Erde.
Im Mai hatte Kaurismäki, der alkoholsüchtige Rabauke, der so wunderbar disziplinierte Filme macht, seinen „Mann ohne Vergangenheit“ in Cannes. Und als er dafür nicht die Goldene Palme bekam, sondern nur den Großen Preis der Jury, (und von einem unabhängigen Juror die „Palm Dog“ für den besten Film-Hund), zeigte er sich als schlechter Verlierer. Und recht hatte er doch. Schon möglich, dass er demnächst beim Europäischen Filmpreis in Rom erneut den kürzeren zieht gegen Polanskis „Pianist“; schon möglich, dass er das Urteil wieder exakt so unsouverän quittiert, wie er seine sanften Helden souverän jedes Urteil annehmen lässt. Aber sein Film, der schönste Traum vom Tod, der sich denken und in Bilder fassen lässt, ist nur ein Film. Und auch ein Kaurismäki hat den Traum vom Leben.
Delphi, Hackesche Höfe, International, Yorck; Babylon A (OmU)
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