Intendant des Pierre Boulez Saals: „Das Publikum spürt die Energie“
Vor einem Jahr wurde der Pierre Boulez Saal eröffnet. Der Intendant Ole Baekhoej über Atmosphäre, Architektur und arabische Musik.
Herr Baekhoej, im Gegensatz zur Elbphilharmonie, wo die gesamte Saison bereits vor dem Start des Konzertbetriebs ausverkauft war, konnte man im Pierre Boulez Saal zunächst noch spontan Tickets bekommen. Was haben Sie falsch gemacht?
In der Tat ging es erst nach unserer Eröffnungswoche so richtig los, da explodierten die Ticketverkäufe. Für viele Berliner schien der Pierre Boulez Saal out of nowhere zu kommen – plötzlich war er da. Wir hatten in der öffentlichen Wahrnehmung eben nicht die Vorteile der Elbphilharmonie: zehn Jahre Verspätung, massive Kostenüberschreitungen, Skandalprozesse mit der Baufirma und so weiter. Dadurch gewinnt man natürlich eine Bekanntheit, wie sie durch kein Marketingbudget zu erreichen ist.
Sie wurden also dafür bestraft, dass Sie pünktlich fertig waren und im Kostenrahmen blieben?
Ja, das ist wirklich schlecht für die Kommunikation (lacht). Von der Idee bis zur Eröffnung dauerte es nur viereinhalb Jahre. Die architektonische Skizze für den Saal von Frank Gehry entstand im Dezember 2012, im März 2017 konnten wir eröffnen. Wir hatten zwar ein großes, durchweg positives Medienecho, aber ich begegne immer noch Menschen, die bis jetzt nichts vom Boulez Saal mitbekommen haben.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Daniel Barenboim?
Ich habe im Oktober 2015 angefangen, da hatte Daniel Barenboim schon sehr klare Vorstellungen von dem inhaltlichen Profil, das er hier etablierten wollte. Und er hatte schon einige Künstler für das Projekt begeistert, sodass wir gleich ganz hochkarätig starten konnten.
Was schätzen Sie besonders am Pierre Boulez Saal?
Das ist zunächst die Atmosphäre der Eingangshalle. Sie hat nichts Elitäres, nichts Prätentiöses. Die Anmutung ist eher roh, industriell, weil viel erhalten werden konnte vom Kulissenlager, das hier ursprünglich untergebracht war. Und dann tritt man in den Saal, der mit seiner Holzvertäfelung sehr einladend wirkt, atmosphärisch warm und menschlich. Die Art und Weise, wie hier die Sitzplätze angeordnet sind, nämlich im Oval um eine am tiefsten Punkt des Saales liegende Bühne, ist weltweit einmalig. Daniel Barenboim hat das so beschrieben: Normalerweise gibt es zwei Gemeinden im Konzertsaal, hier die Künstler und da das Publikum. Im Boulez Saal dagegen gibt es nur eine Gemeinde.
Gibt es Künstler, die mit der ungewohnten Bühnensituation nicht zurechtkommen?
Manche Künstler müssen sich erst einmal zurechtfinden. Aber spätestens nach dem Konzert sind alle glücklich und zufrieden. Manchem Interpreten können die Zuhörer gar nicht nah genug sein, andere wünschen sich etwas mehr Abstand. Wir haben darauf reagiert, indem wir bei den Stühlen, die wir im Oval aufstellen, eine freie Platzwahl eingeführt haben. Das erlaubt uns, auch ganz kurzfristig reagieren zu können, je nachdem wie viel Freiraum die Interpreten brauchen, um sich wohlzufühlen. Besucher, die sich Tickets für den Block A kaufen, wissen also nur, dass sie zentral sitzen, aber nicht, wo genau. Darum haben wird diese Preiskategorie günstiger gestaltet. Das ist gut, weil wir ja so zugänglich wie möglich sein wollen. Toll ist auch, dass wir die Barhocker, die hinter den fest installierten Sitzreihen stehen, jeden Abend für 15 Euro anbieten – selbst dann, wenn Weltstars bei uns auftreten.
Von den Dimensionen her ist der Boulez Saal ideal für Kammermusiksaal geeignet. Dennoch finden auch Orchesterkonzerte statt. Warum?
Weil die eine ganz andere Atmosphäre haben als in konventionellen Konzertsälen. Das Publikum sitzt dann sehr nahe an den Künstlern dran und kann die Energie spüren, die sich während der Aufführung zwischen den Mitwirkenden und dem Dirigenten entwickelt. Natürlich gibt es Beeinträchtigungen, was die Klangbalance betrifft, wenn man nur einen Meter von den Hörnern oder den Kontrabässen entfernt ist – aber rein physisch ist es natürlich etwas ganz Besonderes, als Hörer unmittelbar im Geschehen zu sein. Akustisch funktioniert der Saal übrigens sogar für größte Orchesterbesetzungen. Da ist dann zwar kein Platz mehr für Publikum, aber wir können als Akademie hier problemlos eine Mahler-Sinfonie proben. Und sogar die Staatskapelle hat ihren Brahms-Zyklus mit Barenboim kürzlich hier bei uns aufgenommen.
Neben den klassischen Formaten, den Lieder-, Klavier- und Streichquartettabenden, spielt die arabische Musik im Programm eine immer wichtigere Rolle. War das von Anfang an geplant?
Ja, bereits bei den allerersten Gesprächen mit Frank Gehry hat Barenboim davon gesprochen. Ich habe mich darum gekümmert, gute Leute zu finden. So eine Sache wie die Arabic Music Days im vergangenen Dezember zu organisieren, bedeutet zehnmal mehr Arbeit als bei „normalen“ Klassikprogrammen. Weil wir in diesem Bereich für uns vieles erst entdecken und erfinden müssen. Wir haben neben großartigen Künstlern wie dem Oud-Virtuosen Naseer Shamma und dem enorm vielseitigen Klarinettisten Kinan Azmeh eben auch Poeten und Musikwissenschaftler eingeladen. Und wir hatten Konzerteinführungen auf Arabisch mit Simultanübersetzung. Letztlich hat es toll funktioniert, auch weil wir dafür gesorgt haben, dass alle Beteiligten mehrere Tage zur Vorbereitung in Berlin hatten. Das war kein Tourneeprojekt mit durchreisenden Stars, sondern etwas Einmaliges. Ich möchte nicht, dass wir eine Art Museum sind, mit Volksmusik-Ausstellungen. Wir wollen zeigen, was für eine lebendige Musikkultur es im arabischen Raum gibt, geprägt von hochkarätigen Komponisten und Musikern, die von ihrer spezifischen Tradition geprägt sind, sich aber dadurch stilistisch nicht begrenzen lassen.
Definieren Sie sich als einen Ort der Experimente?
Ja, absolut. Auch durch das von Barenboim gegründete Boulez Ensemble, das als künstlerischer Impulsgeber gedacht ist. Das Publikum, von dem wir träumen, ist eines, das Lust darauf hat, Neues zu entdecken. Ganz im Geist von unserem Namensgeber Pierre Boulez. Oder auch vom West Eastern Diwan Orchestra. Es geht darum, offen zuzuhören, Komplexität nicht von vornherein als etwas Einschüchterndes zu begreifen. Wie wäre es beispielsweise mit dieser Reaktion: Ich verstehe es nicht – wie spannend! Wenn es darum geht, sich Stücken so zu nähern, dass sie sich für den Hörer öffnen, wollen wir aktiv Hilfestellungen geben.
So reibungslos der künstlerische Start im Saal verlief – bei den praktischen Dingen rund ums Konzert gab und gibt es durchaus Verbesserungsbedarf.
Die Garderobensituation erwies sich als ungenügend, da haben wir nachgearbeitet und mehr Raum zur Abgabe der Mäntel geschaffen. Wir wollen außerdem die oberen Rang-Umgänge besser für das Publikum einrichten, dort Sitzplätze schaffen und Stehtische aufstellen. Und wir denken auch darüber nach, wie wir es schaffen können, dass unser Saal in der Art der Bestuhlung maximal variabel bleibt, unsere Gäste aber dennoch ihre Plätze unkompliziert finden können.
Eine ältere Dame erzählte mir, dass sie sich im Rang unsicher fühlte, wegen des gewellten Bodens …
Ja, das erleben wir immer wieder. Wir versuchen dann, es diesen Besuchern zu ermöglichen, dass sie im Parkett sitzen können.
Beim Konzert zum einjährigen Jubiläum am Sonntag, 4. März um 15 Uhr leitet Daniel Barenboim das Boulez Ensemble (Werke von Eisler, Schubert, Schönberg).