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Klassikerjubiläum: Das offene Herz

Früh gestorben, unvollendet geblieben – und ein Genie. Vor 200 Jahren wurde der Dichter Georg Büchner geboren. Seine Novelle "Lenz" und seine Dramen "Dantons Tod" oder "Leonce und Lena" sind so frisch wie eh und je.

Er lebte nur 23 Jahre und vier Monate lang. Georg Büchner schreibt als 21-Jähriger mit Freunden die Flugschrift des „Hessischen Landboten“, in der sich politische und ökonomische Fakten mit poetischer Rhetorik vereinen („Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“). Bald darauf folgt das Revolutionsstück „Dantons Tod“, ein Historiendrama sondergleichen, das die Erkenntnisse von Karl Marx, Sigmund Freud und Elias Canetti zu Masse und Macht, Liebe und Sexualität, Materie und Idee schon vorweg imaginiert. Da ist Büchner immer noch 21.

Mit 22 schreibt er über den schizoiden Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz die atemberaubende Novelle „Lenz“, in der sich Innen- und Außenwelt so wunderbar dicht verspinnen wie das Grauen des Wahnsinns und eine darüber schwebende Heiterkeit: „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“

Kaum ist er 23, promoviert der hessische Medizinstudent Georg Büchner als zuvor von Darmstadt über Straßburg in die Schweiz geflohener politischer Exilant in Zürich über die „Schädelnerven der Barben“, wird so Doktor der Medizin. Und er schreibt das Lustspiel „Leonce und Lena“: Reflexion der romantischen Liebe wie der existenziellen Langeweile und dabei noch eine Satire über die Dummheit der deutschen Duodezfürsten-Kleinstaaterei. Eine brillante Vorwegnahme auch des absurden Theaters.

Bevor ihn in Zürich der jähe Typhustod im Februar 1837 hinwegrafft, hinterlässt er zudem den „Woyzeck“ – ein Fragment, das eine literarische Revolution bedeutet. Die Erfindung des modernen Dramas, realistisches Sozialstück, angeregt durch gerichtsmedizinische Gutachten, wie auch surrealistisches Märchen. Woyzeck, der Prolet als Poet, ein Mörder, ein Liebender, Philosoph der Armut, Tragöde des Alltags, Täter und Träumer, Schmerzensmann der Vergangenheit und Jedermann der Zukunft.

Dazu tolle, geistvollste Briefe, die Übersetzung zweier Dramen Victor Hugos und noch ein eigenes, verlorenes Drama (der legendäre „Aretino“). Manches zwar verstümmelt durch die Zensur oder verbrämt oder verbrannt von seiner wohlmeinend puritanischen Verlobten, einer Pfarrerstochter. Aber was noch da ist, erscheint unglaublich. Mozart, ein Wunderkind seit er aus den Windeln war, komponierte 26-jährig die „Entführung aus dem Serail“. Rimbaud schrieb sein lyrisches Werk zwischen 16 und 19, und Alexander der Große begann im Büchner-Alter die antike Welt zu erobern. Frühe Reife, als man meist früher starb. Dennoch wirkt Büchner für alle Zeiten: als eine Explosion von Genie.

„In ihm hätte Deutschland seinen Shakespeare bekommen“, so rief der Darmstädter Freund und Züricher Nachbar Wilhelm Schulz ihm in einem Aufsatz von 1851 nach, der erst über 100 Jahre später wiederentdeckt wurde. Früh gestorben, doch nicht frühvollendet ist Georg Büchner, der heute vor 200 Jahren am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geboren wurde.

Man hat von „Danton’s Tod“, wie der Originaltitel lautet, das Manuskript; von „Leonce und Lena“ und dem „Lenz“ sind nur – von der Braut Wilhelmine („Minna“) Jaeglé und anderen – redigierte Abschriften oder purifizierte Druckfassungen überliefert; vom „Woyzeck“, an dem Büchner bis zu seinem Tod gearbeitet hat, existieren immerhin mehrere handschriftliche Entwürfe, die heute zu Textcollagen für Inszenierungen der Theater dienen. Auch gibt es den berühmten Steckbrief des großherzoglich hessischen Untersuchungsrichters Georgi, der nach Georg B., dem flüchtigen „Landboten“-Verschwörer, im Juni 1835 fahnden ließ: „Alter: 21 Jahre. Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen Maases. Haare: blonde. Stirne: sehr gewölbt (...) Nase: stark. Mund: klein. (...) Statur: kräftig, schlank. Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit.“

Letzteres lesen wir inzwischen als Pointe. Aus Minnas Nachlass stammt im Übrigen noch eine rotblonde Locke von seinem Haupt, aber nur ein einziges gesichertes Porträt ist vorhanden. Die Bleistiftzeichnung seines Freundes Alexis Muston von einer gemeinsamen Wanderung im Odenwälder „Felsenmeer“ im Oktober 1833 zeigt einen jungen Mann mit tatsächlich hoch gewölbter Stirn, kräftiger Nase und einem kleinen Mund. Ein erst jüngst entdecktes Konterfei, die Ansicht eines etwas stutzerhaften jungen Herrn mit einem Notenblatt in der Hand, gezeichnet von August Hoffmann im nämlichen Jahr 1833, wird jetzt gleichfalls als Büchner-Abbild diskutiert. Doch vermutlich stellt es nur einen Bruder des Theatermalers Hoffmann dar.

Bleibt das schmale grandiose Werk. Bleibt der bedeutendste deutsche Literaturpreis in Georg Büchners Namen, 1951 in der jetzigen Form erstmals an Gottfried Benn verliehen. In diesem Jahr wird mit ihm Sibylle Lewitscharoff in Darmstadt ausgezeichnet, am 26. Oktober. Zeitgleich präsentiert die Darmstädter Mathildenhöhe extern, im superschnieken Multiplex namens „Darmstadtium“, die Ausstellung „Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell“. Zu der in Zusammenarbeit mit der Büchner-Forschungsstelle Marburg und dem Germanisten Burghard Dedner, Mitherausgeber der historisch-kritischen „Marburger“ Büchner-Ausgabe, konzipierten Gedenkschau erscheint Ende nächster Woche noch ein gewichtiger Katalog (Verlag Hatje Cantz, (612 Seiten, 58 € in der bis zum 16.2. 2014 geöffneten Ausstellung).

War Büchner ein Sozialromantiker?

Bildnis eines Freimaurers aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Kunsthandel als Porträt Georg Büchners angeboten.
Bildnis eines Freimaurers aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Kunsthandel als Porträt Georg Büchners angeboten.
© akg-images

Gleichfalls zum Jubiläum stechen zwei neue Büchner-Biografien heraus. Jan-Christoph Hauschilds Georg Büchner. Verschwörung für die Freiheit ist die faktengestützte Version (Hoffmann und Campe Verlag, 352 Seiten, 22,99 €). Sehr profund hat der Literaturwissenschaftler Hauschild 1993 schon eine größere Büchner-Biografie und zuvor 1985 eine Studie zu Büchners Leben und Werk verfasst, mit neuen Quellen und zwei bis dahin unbekannten Büchner-Briefen. Hauschild fährt diese Linien nun nochmals nach, in Details aktualisiert, doch das Bild des politisch und (natur)wissenschaftlich engagierten Poeten wird mehr bestätigt als neu vertieft.

Verändern will dieses Bild dagegen Hermann Kurzke mit Georg Büchner. Geschichte eines Genies (C. H. Beck Verlag, 591 Seiten, 29,95 €, als E-Book 24,99 €). Der Mainzer Germanist und ausgewiesene Thomas-Mann-Biograf setzt den Akzent weg vom Politischen, auf das Privat-Intime im Leben Büchners, das er trotz sprudelarmer Quellen als seelenkundiger Deuter der Dichtung herausspüren will. Statt psychoanalytisch erhellender Erzählung gelingt Kurzke allerdings oft nur die psychologisierende Mutmaßung. Vor allem, wenn es ums Erotische geht, für das er immerzu nach vermeintlichen Schlüsselerlebnissen sucht.

Ein Gewinn ist der dem Büchner-Freund und Porträtisten Alexis Muston zu verdankende Hinweis auf eine offenbar verborgene Liebe Büchners zu einer gesellschaftlich ominösen Dame, die Kurzke als Entdeckung einer „fille perdue“ präsentiert. Das wirkt zunächst spannend, wenngleich das Kapitel mit einer so schmachtenden wie ernüchternden Fantasie über Büchner und seine Braut Minna endet, mit Umfassungen „von hinten und seine beiden Hände auf ihrem Schoß“.

Schlicht Unfug ist, wenn Kurzke seinen Büchner einen „Sozialromantiker“ nennt. Und weil Büchner sehr oft im Werk religiöse Bilder und Formeln verwendet und weil er, anders als einige seiner „Landboten“-Freunde, der hessischen Folterjustiz entkam, konstruiert Kurzke für den jungen Agnostiker einen geradezu katholischen Schuldkomplex. Tatsächlich hat Büchner (wie später auch Brecht) der biblische Ton gereizt, im „Blutmessias“ Robespierre aus „Dantons Tod“ liegt auch das dramatische, tragödische Pathos. Aber das konterkariert Büchner immer wieder, für ihn (und seine Figur Thomas Paine) ist die universelle Pein der „Fels des Atheismus“.

Diese Kreativität aus dem Widersprüchlichen und Büchners Erkenntnis, „jeder Mensch ist ein Abgrund“, kommt bei Kurzke zu kurz. Oder das, was Gottfried Benn, der erste Büchner-Preisträger und selber Mediziner wie Georg Büchner, übers Wesen der Dichter bemerkt hat: „Wir sind der Schmerz und nicht die Ärzte.“

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