West Kowloon Cultural District in Hongkong: Das Neue Kulturquartier soll für die Werte der Protestierenden stehen
Im Windschatten der Proteste von Hongkong entsteht ein neues Stadtviertel. Die Architektur kommentiert den Wahnsinn der dortigen Immobilienentwicklung.
In Hongkong gibt es seit Neuestem Graffiti. Wer genau hinsieht, entdeckt die Zeichen der Veränderung überall, an Hausecken und den Rolltreppen von U-Bahn-Schächten. Darunter immer wieder die gestempelte Forderung: „Keep Hongkong Free“.
Die Protestbewegung hinterlässt ihre kreativen Spuren. Zwar lässt die Stadtverwaltung die Graffiti möglichst umgehend entfernen, aber auf Dauer dürfte das schwerfallen. Veränderung lässt sich nicht einfach wegwischen.
Welche Rolle spielen Kunst und Kultur in Zeiten gesellschaftlichen Wandels? Das war eine der Kernfragen, die nach dem Ende des Kolonialstatus von Hongkong 1998 den Startschuss zur Entwicklung des West Kowloon Cultural District, kurz WKCD, markiert haben. In einem beispiellosen urbanen Entwicklungsprozess sollte eines der größten und ambitioniertesten Kulturquartiere weltweit entstehen.
Das Anliegen war klar: Die Stadt, die sich unter britischem Protektorat zu einem globalen Wirtschaftsstandort entwickelt hatte, wollte einen Ort schaffen, an dem sich eine postkoloniale Identität jenseits ökonomischer Superlative ausprägen und entfalten konnte. Letztlich ging es um die Besetzung eines Vakuums, das aufgrund der veränderten geopolitischen Koordinaten entstanden war. So ist es geradezu symbolisch zu werten, dass dieser Ort nicht einfach gefunden, sondern künstlich geschaffen werden musste.
Das neue Viertel steht kurz vor seiner Vollendung
Durch eine gewaltige Landgewinnung wurde im Hongkonger Hafenbecken ein Areal von 40 Hektar aufgeschüttet, auf dem alles Platz finden sollte, was historisch und zeitgenössisch, regional und global kulturelle Relevanz besitzt: Museen, Galerien, Theater für Tanz und Performance, aber auch Restaurants, Läden und Büros sowie ein „Art Park“ als Naherholungsgebiet mit Straßenkunst und Freiluftbühnen.
Das Büro Foster & Partner, verantwortlich für die Masterplanung, legte das gesamte Quartier als Fußgängerzone an und verlagerte sämtliche Verkehrsinfrastrukturen wie Straßen, Versorgung und Logistik in den Untergrund.
20 Jahre später steht der West Kowloon Cultural District kurz vor seiner Vollendung. Bereits eröffnet sind unter anderem der weitläufige Park und das der klassischen chinesischen Oper gewidmete Xiqu Centre von Revery Architecture. Im kommenden Jahr soll dann mit dem neuen Museum für visuelle Kultur M+ das wohl spektakulärste Gebäude des WKCD fertiggestellt sein.
Der Entwurf stammt von Herzog & de Meuron, und schon im Rohbau ist der radikale Charakter der Architektur erkennbar. Mit der Fähre von Victoria Harbour kommend, fällt zunächst ein über 13 Stockwerke reichender vertikaler Gebäudeteil ins Auge. Darunter befindet sich ein in die Horizontale gelegter einstöckiger Riegel, der über dem Boden zu schweben scheint.
Hier entstehen die zentralen Ausstellungsflächen für die vier Sammlungsschwerpunkte Kunst, Design, Film und Tuschmalerei; außerdem sind Räume für Wechselausstellungen und diverse Bildungsangebote vorgesehen. Der vertikale Teil ist abgesehen von Büro- und Studioräumen vor allem als monumentale LED-Fläche geplant.
Ein riesiger LED-Screen gehört zum kuratorischen Konzept
Provozierend schlicht in der Form und komplex in ihren sozialen und kulturellen Referenzen: Das sind wiederkehrende Merkmale der Architektur von Herzog & de Meuron. Wer würde sonst auf die Idee kommen, in einer Stadt, die weltweit zu den teuersten Immobilienstandorten zählt, großzügig in die Horizontale zu bauen? Und den vertikalen Gebäudeteil, der dünn wie eine Scheibe wirkt, verschwenderisch als gigantische Screenfläche zu konzipieren?
Beide Formen kommentieren den ökonomischen Wahnsinn der Hongkonger Immobilienentwicklung mit großzügigen Spiel-Räumen für Kunst. Insbesondere der Screen wird seine Wirkung nicht verfehlen, wenn er dem Glitzerpanorama der Hochhäuser auf der anderen Seite des Hongkonger Hafenbeckens künstlerische Botschaften entgegensendet, die weithin sichtbar direkt ins kommerzielle Zentrum der Metropole hinüberstrahlen.
Für Suhanya Raffel, die Ende 2016 als Direktorin ans M+ berufen wurde, sind diese kommunikativen Dimensionen der Architektur essenziell. Sie sieht das Gebäude als wichtigen Teil der Sammlung, der Screen bildet Teil ihres kuratorischen Konzepts.
Als „digitaler Ausstellungsraum“ macht er niedrigschwellige Angebote auch an die Hongkonger, die nicht zur kosmopolitischen Elite der Stadt gehören. „Viele Hongkonger und Touristen werden über den Screen auf uns aufmerksam werden, der bei Nacht weithin zu sehen sein wird und neugierig macht, weil seine Bilder und Botschaften so anders sind als die üblichen Werbebotschaften auf den Hochhausfassaden.“
Die Wahl des Standorts war politisch motiviert
Die Sammlung des M+ kann schon jetzt auf einen beeindruckenden Bestand von gut 6500 Objekten verweisen. Den Grundstein bildet die Kollektion von Uli Sigg, dem ehemaligen Botschafter der Schweiz in China, der bereits in den 1970er Jahren damit begonnen hatte, zeitgenössische Kunst aus China zu sammeln, und dem im Aufbau befindlichen Museum 2012 rund 1500 Werke chinesischer Künstler vermachte.
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Die Wahl des Standorts war politisch motiviert, schien Hongkong doch aufgrund seiner Nähe zum Westen damals sicherer als Schanghai oder Peking. Inzwischen hat sich die politische Lage verändert.
„Man kann derzeit nicht ausschließen, dass das eine oder andere meiner Sammlung in den Kellern des M+ verstauben könnte“, äußert Sigg im „Handelsblatt“. „2011 wurde mir in Hongkong noch garantiert, dass es dort Meinungs- und Kunstfreiheit gibt. Heute, acht Jahre später und 21 Jahre nachdem Hongkong an China zurückgefallen ist, kann mir das niemand mehr garantieren.“
Suhanya Raffel gibt sich gegenüber den aktuellen politischen Konflikten gelassen. Ihr Interesse konzentriert sich auf die visuellen Ausdrucksformen und kreativen Techniken, die sich in der gegenwärtigen Protestkultur formieren. So ist Kacey Wong, Künstler und Kunstaktivist aus Hongkong, seit Neuestem mit einer Installation in der Sammlung vertreten.
Ein anderer kuratorischer Schwerpunkt gilt digitalen Kunst- und Kommunikationsformen, repräsentiert etwa im Werk des südkoreanischen Künstlerduos „Young-Hae Chang Heavy Industries“, das Raffel kürzlich für die Sammlung angekauft hat.
„Das M+ ist ein globales Museum mit Schwerpunkt Asien, aber es soll auch die besondere kulturelle Ökologie Hongkongs berücksichtigen. Hongkong war immer eine sehr internationale, kosmopolitische Stadt mit ausgeprägten lokalen Wurzeln und einer großen Durchlässigkeit für Einflüsse von überallher“, führt die Australierin mit Wurzeln in Sri Lanka aus. Für Raffel sind kulturelle Einrichtungen spirit houses. Sie bieten Orte des Austauschs und der Reflektion.
Ähnlich sieht das auch Duncan Pescod, der als Geschäftsführer des WKCD die Gesamtplanung des Quartiers steuert und für die Koordination der unterschiedlichen Interessen verantwortlich ist. Zwar mussten im Zuge der Proteste in den vergangenen Wochen einige Veranstaltungen abgesagt oder verschoben werden, aber am Ende gehe es darum, trotzdem – oder besser: gerade deshalb – weiterzumachen.
Der West Kowloon Cultural District stehe, so Pescod, genau für die Werte, die die Protestierenden in Hongkong einfordern: Freiheit der Rede, des Ausdrucks, Demokratie. „The Show must go on.“ Der Rest wird sich zeigen.
Anja Osswald
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