Rattle eröffnet Osterfestspiele mit Puccini: Das Mädchen und der Mammon
Simon Rattle gibt sein Debüt als Puccini-Dirigent und eröffnet die Osterfestspiele in Baden-Baden mit "Manon Lescaut". Damit wird er zum Mann des Abends.
Oh Gott, das bin ja ich! Für die eine oder andere Dame im Saal dürfte dieser 2. Akt ein Schockerlebnis gewesen sein. In der Eröffnungsszene, ja, da ist es noch ein Leichtes, Manon Lescaut zu mögen, das reizende Mädchen vom Lande, das von ihrer Familie ins Kloster geschickt werden soll – und mit einem Studenten nach Paris durchbrennt. Im Festspielhaus von Baden-Baden verlegt der britische Regisseur Richard Eyre die Handlung der Puccini-Oper aus dem 18. Jahrhundert in ein „Film noir“-Ambiente, ins besetzte Frankreich der vierziger Jahre. Rob Howell hat ihm dazu einen monumentalen Bühnenhorizont bauen lassen, 15 Meter breit, 12 Meter hoch, in dem sich Naziarchitektur und Rokoko verschränken. Klobige Kolonnaden wachsen gewissermaßen in die Fassade eines Palais hinein: Schon sind weite Flächen der filigranen Stuckverzierungen mit glattem Putz zugekleistert.
Lange allerdings hält es Manon nicht aus bei ihrem mittellosen Liebhaber Renato des Grieux. Glanz und Glamour locken zu sehr, sie heiratet den steinreichen Geronte di Ravoir. Eine goldene Treppe wird also für den im 2. Akt ins Bühnenbild eingefügt, dazu feinste Art-déco-Elemente. Hinter einem Glanzlack-Paravent schlüpft die zur Society Lady mutierte Manon in neueste Couture-Kreationen. Doch längst langweilt sie ihr Luxusleben an der Seite des deutlich älteren Gatten. Selten wird die Funktion der Kunst als Spiegel der Gesellschaft so greifbar wie bei dieser Galapremiere im Festspielhaus von Baden-Baden, wo sich der süddeutsche Geldadel versammelt, wo Renommierkarossen vor der Tür stehen und Wohlstand zur Schau getragen wird. Eine Szene mit hohem Identifikationspotenzial.
Die Romanvorlage des Abbé Prevost allerdings, 1731 erschienen, die vor Puccini schon Jules Massenet erfolgreich vertont hatte, kommt mit der großen moralischen Keule: Manon flüchtet aus der Berechnung zurück ins Begehren, wirft sich erneut Renato des Grieux in die Arme, wird als Ehebrecherin verurteilt, nach Amerika deportiert und verschmachtet dort elendiglich in der Wüste. Immerhin in den Armen des Tenors.
Eva-Maria Westbroek zwischen Backfisch und Zicke
Dieser Schluss verfehlt auch in Baden-Baden seine Wirkung nicht, wo der Regisseur die Liebenden in den Trümmern des zerbombten Paris umherirren lässt. Massimo Giordano, optisch wie stimmlich der ideale italienische Tenor, gesegnet mit einer in allen Lagen mühelos ansprechenden Stimme, die warm klingt und dennoch viril, kann hier nach Herzenslust schluchzen. Und Eva-Maria Westbroek zeigt einmal mehr, wie eindringlich sie gebrochene Frauenfiguren verkörpern kann.
In ihrer optischen Anmutung ist die Sängerin für einen Regisseur, der so filmrealistisch arbeitet wie Richard Eyre, allerdings eine Herausforderung. Den Backfisch zu Beginn nimmt man ihr nicht ab, ebenso wenig das zickige It-Girl des Paris-Aktes. Zumal Fotini Dimou, die sonst überaus stilsichere Kostümbildnerin, Frau Westbroek nicht gerade schmeichelhaft eingekleidet hat.
Der wahre Protagonist des Abends ist Sir Simon Rattle.
Viel Zeit hat der Regisseur auf das pittoreske Arrangement der Chöre im Eröffnungsbild verwendet, die beiden Schlüsselfiguren der Handlung dagegen, Manons Bruder wie ihren Ehemann, dagegen lässt er ziemlich alleine. Handelt Lescaut hinterhältig oder barmherzig, wenn er den Studenten und das Mädchen erneut zusammenbringt? Der szenisch wenig bewegliche Lester Lynch vermag die Frage nicht zu erhellen. Umso bemitleidenswerter erscheint Liang Li als Geronte, ein Gentleman mit noblem, makellosen Bass und ebensolchen Manieren. In einer winzigen Nebenrolle als Madrigalsängerin ist Rattles Frau Magdalena Kozena zu erleben, mit kolossalem Schwangerschaftsbauch, aber vokal unbeeinträchtigt.
Der wahre Protagonist des Abends aber ist Sir Simon. Er gibt nämlich sein Debüt als Puccini-Dirigent. Mag der Brite auch einen weiteren Interessenhorizont haben als die meisten seiner Kollegen, Puccinis süffiger Sound war bisher nicht sein cup of tea. Und auch die Philharmoniker haben eine Oper des Italieners zuletzt 1982 unter Herbert von Karajan gespielt. Umso mehr spricht die Wahl von „Manon Lescaut“ für die ungebrochene Abenteuerlust, die Dirigent und Orchester verbindet.
Dort, wo Puccinis Partitur am schwersten ist, sind Rattle und seine Truppe am besten: im wuseligen Amiens-Bild, oder auch am Ende des 2. Aktes, wenn Lescaut hereinstürmt, um der Schwester zu berichten, dass die Polizei anrückt. Da schießen die Motive nur so durcheinander, atemlos, in höchster Aufregung. Virtuos ist das gemacht, sinfonisch gedacht, nach Art der Tondichtungen von Richard Strauss. Wie einen geschliffenen Diamanten lassen die Philharmoniker diese Passagen funkeln, in tausend Klangfarben, technisch brillant.
Das süßliche Parfüm des Melodrams bleibt Rattle fremd
Wo es allerdings gefühliger wird, wo Puccini emotionale Aufwallungen auskomponiert, wird der Ton bei Rattle oft zu fest. Da fehlt dem Parfüm die süßlich-sinnliche Kopfnote, das Verführerische. Erfahrene Puccini-Maestri können da den heißen Herzschlag des dramatischen Furors erlebbar machen, das Subkutane, das Pochen unter der Oberfläche.
Noch spricht Simon Rattle dieses Theateritalienisch mit starkem Akzent: Grammatikalisch, also dem Notentext nach, ist alles korrekt – was fehlt, ist sozusagen die Gestik, mit der Südländer ihre Worte nonverbal unterstreichen. Wie immer aber, wenn der britische Dirigent sich auf unbekanntes Terrain wagt, ist es für den Hörer eine pure Freude, bei diesem Experiment dabei zu sein. Weil in jedem Takt Rattles ehrliches Interesse spürbar wird, seine Offenheit, die Lust, vorurteilsfrei Neues zu entdecken.
Arte überträgt „Manon Lescaut“ am 16. März ab 20.15 Uhr.