Oper: Das Lied vom Wind
Uraufführung in Brüssel: Sasha Waltz inszeniert die Oper „Matsukaze“ von Toshio Hosokawa - und hat sich zum Glück gegen eine aktualisierende Fassung entschieden.
Die Versuchung muss sehr groß gewesen sein. Mitte März, die erste Probenphase mit Tänzerinnen und Sängerinnen hat gerade begonnen, der Komponist ist zu Besuch, Toshio Hosokawa, gebürtig aus Hiroshima, da beben in Japan die Erde und das Meer und es ereignet sich, was man Naturkatastrophe nicht mehr nennen kann. Früher, sagt Hosokawa, hätten die Japaner Häuser aus Holz und Papier gebaut und aus der Natur geschöpft, voller Ehrfurcht, Demut, Wissen. Heute stapelt sich der unkaputtbare Müll einer entfremdeten Zivilisation über den verwüsteten Landstrichen, und das Ganze trägt das Signet eines havarierten Atomkraftwerks: Fukushima. Der Mensch ist des Menschen Fresser. Für immer.
Die Versuchung muss sehr groß gewesen sein, im Angesicht dieser Ereignisse das „Matsukaze“-Konzept über den Haufen zu werfen und für einmal mit der behäbigen Kunstform Oper brandaktuell zu sein. Zumal „Matsukaze“ – eine Coproduktion des Brüsseler Théâtre de la Monnaie mit Luxemburg, Warschau und der Berliner Staatsoper, dort läuft es vom 15. bis 17. Juli – ursprünglich aus dem Nô-Theater stammt und die Geschichte eines shintoistischen Zurück-zur-Natur erzählt. Zwei Schwestern, Matsukaze und Murasame, lieben denselben Mann, Yukihira, und verfallen so sehr ihrem Begehren (erstaunlich eifersuchtslos übrigens), dass sie selbst im Tod keine Ruhe finden, sondern an der Küste der Insel Suma geisterhaft weiter wesen: als „Wind in den Kiefern“ (Matsukaze), als „Herbstregen“ (Murasame), zwei Schatten im Kreislauf ewiger Kräfte.
Einen Strand, eine Kiefer, einen Mönch, einen Fischer und einen Chor für die Windgeräusche – mehr braucht auch Hannah Dübgens wortkarges Libretto nicht, um das alte Nô-Spiel so zu skelettieren, dass es 600 Jahre später im post-aufklärerischen Westen verstanden werden kann. Was man daraus aktualisierend hätte machen können? Eine atomare Sperrzone und Todesinsel, mit Leichtigkeit. Einen psychiatrischen Gulag im Jahr X danach, Hiroshima, Tschernobyl, Fukushima, verstrahlte, traumatisierte, ausgestoßene Menschen im Wahn einer heilen, sie heilenden Natur befangen. Mit der Botschaft von „Matsukaze“ hätte man sich in beiden Fällen wohl etwas schwer getan.
Sasha Waltz und ihr Team (die Bühnenbildnerinnen Pia Maier Schriever und Chiharu Shiota, die Kostümdesignerin Christine Birkle) haben sich gemeinsam mit Toshio Hosokawa gegen eine Änderung des ursprünglichen Konzepts entschieden, haben am Abstraktionsgrad der Inszenierung festgehalten, und das ist sicher gut so. Nicht nur, dass das Theater im Angesicht derart drastischer Realitäten ohnehin rasch albern wirkt. Auch die Musik lässt hier letztlich keinen anderen Schluss zu.
Meditativ und hoch konzentriert, hoch energetisch schwappt und schwemmt sie aus dem Graben auf die Bühne, in den Saal, vollzieht sich in Wellen und Wogen, liebt das tiefe Register und beschwört die Gischt, lässt Glöckchen klingeln, Harfen brausen, Geigen ächzen, eine Trommel schickt reitende Boten in die alte Nô-Vergangenheit, eine Trompete schreit und erstickt, und vom Band plätschert echtes Wasser. Sehr kompakt oder massiv darf man sich das nicht vorstellen, weder klanglich noch dynamisch, eher wie ein Netz, das sich mal fester, mal weniger fest spannt, und in dem die Gesangsstimmen wie glänzende Fische zappeln: Charlotte Hellekants Murasame, mit großem klarem Ausdruck, der grandiose Frode Olsen, dessen Mönch in seiner Gebrochenheit bisweilen an Reimanns Lear erinnert, sowie Kai-Uwe Fahnert als Fischer und das fabelhaft bewegliche Vocalconsort Berlin. Und Barbara Hannigan in der Titelpartie, die stimmlich und körperlich keine Akrobatik scheut und die von den Waltz- Tänzern, diesen selbstgenügsamen Feuer-Erde-Wasser-Luft-Wesen, am Ende kaum mehr zu unterscheiden ist. Am Ende, wenn der Wind wieder weht.
Bei aller Anschaulichkeit ist das keine Musik für den großen medialen Budenzauber, insofern ist die Entscheidung der Regisseurin Waltz für ein konventionelles Setting – Orchester im Graben, Guckkasten, fast leere Bühne – nur konsequent. Hosokawa hat bei Ysang Yun und Brian Ferneyhough studiert und versteht sich seit seinem Bühnenerstling „Vision of Lear“ (1999 bei der Münchner Musiktheater-Biennale) als ebenso akribischer wie im guten Sinn unspektakulärer Opernkomponist. Er schreibt Musik aus dem Körperinneren fürs Körperinnere, und findet in Pablo Heras-Casado nun seinen Meister. Mit welchem Atem, wie souverän der junge spanische Dirigent am Pult des Kammerorchesters des Théâtre de la Monnaie agiert, wie klug er disponiert und nie Sehnsucht nach gröberen Effekten aufkommen lässt, das ist großartig.
Die Frage ist nur, ob „Matsukaze“ tatsächlich ins dramatische Fach gehört. Braucht es, bei aller Schönheit und Aura der Bühne, jene doppelte Spinnweben- respektive Wollfäden-Wand, die das Diesseits vom Jenseits trennt und in der die Figuren scheinbar schwerelos allerlei Kunststücke vollführen, wie Insekten im Todeskampf, wie Embryonen beim Geborenwerden? Hosokawas Musik, getreu ihrer Gezeiten-Ästhetik, kennt etliche ruhige, mäandernde Phasen und eine Stille wie auf dem Meeresgrund. Sasha Waltz hingegen scheint sich vor diesem vermeintlichen Nichts zu fürchten und flüchtet mit immer neuen körperskulpturalen Formationen ins allzeit gefüllte und bewegte Bild. Schade.
Und so prasseln nach 90 Minuten tausend federleichte Mikadostäbe (Weidenruten? Regentropfen?) aus dem Schnürboden auf die Darsteller herab, begraben sie unter sich. Erde zu Erde, Staub zu Staub. Sänger, Tänzer, diese Grenzen haben sich gesamtkunstwerklich längst verwischt. Eine einzelne Frau, eine Asiatin im weißen Kleid, strebt langsam, sehr langsam der Rampe entgegen. Vielleicht geht sie in die Irre, vielleicht nicht. Der Weg des Menschen muss wohl überlegt sein.
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