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Die Nominierten: Christian Falsnaes, das Duo Slavs und Tatars, Anne Imhof und Florian Hecker.
© David von Becker

Preis der Nationalgalerie: Das Lesen und die Lüste

Der renommierte Preis der Nationalgalerie wird zum 15. Mal in Berlin vergeben. Diesmal soll bei der Gruppenausstellung der nominierten Künstler im Hamburger Bahnhof das Publikum mitspielen.

Der Raum liegt im Dämmer, es riecht nach Buttermilch. Nicht unangenehm, aber doch intensiv genug, um klarzumachen, dass in den Hamburger Bahnhof das echte Leben eingezogen ist. Anne Imhof hat drei rechtwinklige Tröge aus Beton gießen und mit der hellen, im Schwarzlicht noch stärker leuchtenden Flüssigkeit füllen lassen. Paletten mit Cola, schwarze Boxsäcke, weiße Handtücher, blaue Monochrome an der Wand und ein sanftes Pfeifen im Raum komplettieren das Szenario ihrer performativen Installation.

Ab und an kommt jemand herein, taucht die Hände in die Milch oder versinkt hinter dem Bildschirm eines aufgeklappten Laptops. Sie sei nicht besonders an Natur interessiert, erklärt eine junge Frau zwischen zwei Bodenübungen, die an Yoga erinnern, bevor ein anderer Akteur seine Schildkröte vom Arm lässt. Das Tier erinnert daran, wie endlich die Strömungen der Kunst im Vergleich zu seiner Lebenserwartung sind.

Ob Anne Imhof in ihren Arbeiten „Rage“ und „Deal“ darauf anspielt, ist nicht so relevant. Die Künstlerin (Jahrgang 1978) hat wie die drei anderen Nominierten für den Preis der Nationalgalerie längst begriffen, dass sich die Assoziationen des Betrachters nur bedingt mit den eigenen Absichten zur Deckung bringen lassen. Die vier konkurrierenden Positionen der Gruppenausstellung spielen mit dieser Differenz der Wahrnehmung und Interpretation. Imhof wie Christian Falsnaes tun dies im Rahmen unterschiedlicher performativer Ansätze, Florian Hecker mithilfe zweier akustisch dominierter Räume und das Künstlerkollektiv Slavs and Tatars mit einer Inszenierung namens „Qit Qat Club“, bei der man schnell auf den legendären „Kit Kat Club“ kommt.

Wissenschaftliche Abhandlungen und ein nacktes Bein aus Kunststoff

Statt nacktes Fleisch bieten Payam Sharifi und Kasia Korczak, die das Kollektiv im Wettbewerb um den Kunstpreis vertreten, im „Darkroom“ ihrer Installation allerdings nüchternen Lesestoff: theoretische Schriften oder wissenschaftliche Abhandlungen, die man sich an einem schwarzen Tisch mit festgeketteten Büchern aneignen kann. Ein nacktes Bein aus Kunststoff, das von der Decke hängt, bleibt der einzige Hinweis auf das sinnliche Potenzial des Vorgangs. Augen, Mund, Stimme: Sie alle sind nicht bloß am Lesen und Sprechen beteiligt, sondern zugleich erotisch aufgeladen.

Mit ihrer Schaukel in Form einer monumentalen Gebetskette und einem fliegenden Teppich schaffen Slavs and Tatars zugleich den stofflichsten Beitrag der kleinen Leistungsschau, die am 18. September in der Bekanntgabe der Preisträger gipfelt. Eine Jury ermittelt dann unter den vier Konkurrenten ihren Favoriten und gibt den Gewinner bekannt, der nächstes Jahr in einem der Häuser der Nationalgalerie eine große Soloschau bekommt. Dank der Objekte, die man anfassen und teils sogar im Wortsinn besetzen kann, vermittelt das Kollektiv trotz aller linguistischen Anstrengung eine Idee davon, wie es eine Institution füllen könnte.

Kann das weg oder gehört es auf Youtube?

Bei Hecker wie Falsnaes geht das nicht so einfach. Letzterer baut auf das Publikum und dessen Lust an der Selbstinszenierung. Der gebürtige Däne (Jahrgang 1980) wirkt jenseits der Bühne eher zurückhaltend. Doch wehe, sein Auftritt beginnt: Dann wird er zum Einpeitscher. Zu einem rasenden, Glieder und Mikrofon schwingenden Bezwinger, der die Anwesenden zum Mitmachen bringt. Oder ihnen bunte Kopfhörer aufsetzt, die so angenehm isolieren, dass ihre Träger den nur an sie adressierten Anweisungen unverzüglich Folge leisten. Wer schüchtern ist oder diese durchaus autoritäre Geste ablehnt, dem bietet Falsnaes eine Alternative. Seine zweite Arbeit bittet per Tablet-Computer zum Zwiegespräch. Das Ergebnis der Ein-Mann-Performance darf man am Ende noch einmal begutachten, bevor die Entscheidung fällt: Es wird zerstört oder für jeden sichtbar auf die öffentliche Plattform YouTube geladen

Natürlich gibt es immer ein paar Verweigerer. Christian Falsnaes rechnet damit, genau wie Anne Imhof oder Slavs and Tatars. Doch wer den magischen Ort der Künstlerin mit seinen pseudo-ritualisierten Handlungen gleich wieder verlässt, wer bei Falsnaes trotzig in der Ecke steht oder die Materialien des Kollektivs erst gar nicht anrühren mag, der bringt sich selbst um eine Erfahrung. Dass alle hier vertretenen Künstler das Publikum als aktiven Part brauchen, um ihre Arbeit zu komplettieren, ist als Tendenz dieser jungen Kunst nicht zu übersehen. Dass die erste Jury gleich vier solcher Positionen aus allen Vorschlägen gefiltert hat, macht nachdenklich. Neu sind solche Strategien nämlich nicht, sondern seit den Fluxus- und Happeningzeiten der Sechziger ein probates Mittel, um den saturierten Ausstellungsbesucher aus der Reserve zu holen.

Florian Hecker lässt Töne aus schwarzen Boxen rinnen

Das gelingt Florian Hecker diesmal bloß im Ansatz. Acht kleine Lautsprecher hängen in den beiden vom Künstler strukturierten Räumen, die zusätzlich mit Paneelen ausgestattet sind. Bezogen wurden sie mit unterschiedlichen Stoffen – einer filzartig und absorbierend, der andere mit Aluminium bedampft und deshalb reflektierend. Klangorte für unterschiedliche Erfahrungen, die die Arbeit „Formulation“ vermittelt.

Aus den schwarzen Boxen rinnen Töne, die Hecker elektronisch generiert und zu komplexen Mehr-Kanal-Installationen schichtet. Als Soundkünstler sieht er sich nicht, sein Werk basiert auf der Konzeptkunst und liefert akustische Abstraktionen, die auf vorgefundene Situation wirken und sie verändern. Können, muss man sagen. Florian Hecker ist das in den vergangenen Jahren oft gelungen. Diesmal aber verliert sich der Betrachter im Überangebot des Gehörten.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50–51, bis 17. 1., Di bis Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr

Christiane Meixner

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