Kollisionen zweier Großmächte: Das leise Klirren an den Rändern
„An den Ufern des Amur“: Sören Urbansky bereist die Grenzregion zwischen China und Russland.
Mit 22 457 Kilometern verfügt die Volksrepublik China, knapp gefolgt von Russland, über die längste Außengrenze der Welt. Mitte des 19. Jahrhunderts konnten sich die beiden damals kaiserlich beziehungsweise zaristisch geprägten Reiche außerdem der längsten gemeinsamen Landesgrenze rühmen. Der Zerfall der Sowjetunion und die Unabhängigkeit der Mongolei haben diese von rund 12 000 Kilometern zwar auf ein Drittel schrumpfen lassen. Doch als kulturelle Scheide von Asien und Europa entfaltet sie rund um die drei Grenzflüsse Argun, Amur und Ussuri noch immer Kraft.
Während sich ihre Geschichte einerseits als schleichende Befestigung einer Demarkationslinie im Niemandsland erzählen lässt, richtet sich ihre Durchlässigkeit andererseits nach den politischen Wechselfällen. Nach dem Zerwürfnis von Mao Zedong und Nikita Chruschtschow in den späten 1950er Jahren und massiven Grenzkonflikten am Ussuri im Jahr 1969 verfestigte sie sich rapide, bevor Xi Jinping und Wladimir Putin im gemeinsamen Interesse, den USA die Stirn zu bieten, eine erneute freundschaftliche Annäherung vollzogen.
Chinas Belt and Road Initiative, die Neue Seidenstraße, hat insbesondere die Region um das innermongolische Manzhouli zu einem von sechs Handelszentren erkoren. Die geradezu explodierende Infrastruktur bringt eine neue Prosperität – nicht ohne dass die wirtschaftlich abgehängten Russen neidisch auf ihre Nachbarn starren würden.
Wissenschaftlich und journalistisch versiert
Sören Urbansky, 1980 in Leipzig geboren und heute Leiter des Pazifikbüros des Deutschen Historischen Instituts Washington im kalifornischen Berkeley, hat schon lange sein Herz an dieses Grenzgebiet verloren und sich damit sowohl wissenschaftlich wie journalistisch auseinandergesetzt. Vor einem Jahr erschien in der Princeton University Press seine Dissertation „Beyond the Steppe Frontier – A History of the Sino-Russian Border“.
Das für die Gattung ungewöhnlich lebendig geschriebene Buch bekommt seinen Stoff in den Griff, indem er das halbe Jahrtausend, das es zu überblicken gilt, immer wieder mikrohistorisch betrachtet. Urbansky widmet sich der Rolle der Ostchinesischen Eisenbahn und derjenigen der Schiene überhaupt, er studiert die kriegerischen Interventionen der Japaner. Er analysiert die Entstehung der Manzhouli benachbarten russischen Grenzstadt Sabaikalsk, und er sucht nicht nur nach anschaulichen Zeugnissen in überwiegend russischen Archiven, sondern treibt auch selber Oral History.
Sein Reisebuch „An den Ufern des Amur“ tut das nun mit dem impressionistischen Vergrößerungsglas des Reporters – und durchaus literarischen Qualitäten. Vom sibirischen Irkutsk am Baikalsee, der inzwischen Heerscharen chinesischer Touristen anzieht, bricht er auf erkenntnisreichen Umwegen entlang der Grenzflüsse nach Wladiwostok am Japanischen Meer auf.
[Sören Urbansky: An den Ufern des Amur. Die vergessene Welt zwischen China und Russland. Verlag C.H. Beck, München 2021. 375 Seiten, 26 €.]
Urbansky, ein Schüler des Globalgeschichtlers Jürgen Osterhammel und des Osteuropa-Historikers Karl Schlögel, hat in beiden Ländern gelebt, spricht beide Sprachen und ist mit einer Chinesin verheiratet. Schon während seines Friedensdienstes in einem Moskauer Altersheim begegnete er einem Heimkehrer aus dem mandschurischen Harbin am Songhua. Dorthin waren nach der Oktoberrevolution viele Russen geflüchtet und verliehen der Stadt ein europäisches Gepräge.
Glücksritter, Schmuggler und Spione
Seine Literaturempfehlungen verschweigen keineswegs, dass die sino-russische Grenzregion keine Terra incognita mehr ist. Gerade in den letzten Jahren sind substanzielle Arbeiten entstanden, darunter genreverwandte Bücher wie Ed Pulfords „Mirrorlands – Russia, China, and Journeys in Between“. Zwischen Backpacker-Abenteuer und historischer Unterrichtsstunde, anekdotischem und panoramatischem Zugriff, Menschenporträts, Stadtansichten und Landschaftsbeschreibungen, gelingt es Urbansky, in der Vergangenheit der Glücksritter, Schmuggler und Spione die Gegenwart aufzuspüren – und in der Gegenwart die Vergangenheit.
Mit der verkehrsmäßigen Navigierbarkeit der versteppten Weiten, zeigt Urbansky, hat die Nähe der Menschen nur bedingt zugenommen. Eine doppelte Existenz wie die des Chinesen Zhang Yongjin, der sich unter dem Namen Jurij Iwanowitsch im russischen Blagoweschtschensk mit Blick auf das am chinesischen Ufer des Amur liegende Heihe eingerichtet hat und in der Region mehrere Markthallen betreibt, ist die Ausnahme.
Die Entfremdung ist eher gewachsen – zumal die Waren- und Dienstleistungsströme sehr zu Gunsten Chinas fließen. Und doch ist dies das Terrain, auf dem sich jenseits aller diplomatischen Allianzen im fernen Peking und Moskau die alltägliche Vermischung zweier Kulturen vollzieht, die sich auch hin und wieder die Schädel eingeschlagen haben.
Museale Überbleibsel
Was daraus entsteht, lässt sich noch nicht absehen – nur dass es inmitten unterschiedlicher Erinnerungshaushalte stattfindet, die zum Teil sichtbar Geschichte inszenieren. Ein Kosakendorf wie Enhe, das „noch immer wie ein nach China verpflanztes bäuerliches Stück Sibirien anno 1917“ aussieht, lässt heute die Touristen staunen. Eine Gedenkstätte wie Pingfang vor den Toren Harbins soll sie erschauern lassen.
Das „Auschwitz Asiens“, wie die Chinesen in maßstabsungerechter Verzerrung das 1936 eingerichtete, verbrecherische Lager nennen, in dem die Japaner mit biologischen Kampfstoffen experimentierten, kostete rund 3000 Häftlinge das Leben. Sie wurden mit Anthrax oder der Ruhr infiziert, am lebendigen Leib seziert oder mörderischen Kälteversuchen ausgesetzt.
Sören Urbansky schreibt dicht und anschaulich, auch wenn der Historiker dem Literaten gelegentlich in die Quere kommt. Der Wechsel zwischen referierenden und erlebten Passagen gerät ihm manchmal allzu schematisch, und der Versuch, seinen Figuren die Fülle des mitzuteilenden Wissens in den Mund zu legen, lässt sie mitunter zu Stadtführern mutieren. Auffällig, im Blick auf Urbanskys chinesische Familienseite gleichwohl verständlich, ist auch seine Zurückhaltung in der Beurteilung der Großmachtansprüche beider Seiten.
Die Innere Mongolei, offiziell eine Autonome Region wie Tibet und Xinjiang, die Heimat der Uiguren, unterliegt seit Langem einer neuerdings auch sprachpolitisch offensiv verfolgten Sinisierung. Hier ließe sich der Nutzen einer umfassenden Modernisierung noch einmal im Augenblick ihrer Entfaltung gegen den Preis kultureller Homogenisierung abwägen.
Aber das sind schwache Einwände gegen die Verdienste dieser historisch reich unterfütterten Reiseerzählung, die aus der Masse der aktuellen Chinaliteratur herausragt. Mit ihr mag sie das Schicksal teilen, als Momentaufnahme vielleicht schon in wenigen Jahren veraltet zu sein. Als Dokument dieser dahinrasenden Zeit, in der sich die Machtsphären dieser Welt neu sortieren, hat sie die besten Voraussetzungen, Bestand zu haben.