„Nassim“ am English Theatre Berlin: Das Leben kennt keine Proben
Sturz ins Unbekannte: Der iranische Autor Nassim Soleimanpour und sein neues Stück „Nassim“ am English Theatre Berlin.
Nassim Soleimanpour ist kein unbescheidener Mensch. Im Gegenteil. Insofern klingt es auch eher nach sachlicher Feststellung als nach Angeberei, wenn der iranische Dramatiker beim Gespräch sagt, dass ihn der Welterfolg seines Stücks „White Rabbit, Red Rabbit“ kein bisschen überrascht habe. „Dieses Ding wird ewig touren“, verkündete er seinem skeptischen Bruder zur Entstehungszeit, anno 2010. Er sollte recht behalten.
Mittlerweile ist „Rabbit“, wie Soleimanpour seinen Erstling kurz nennt, in 32 Sprachen übersetzt und in über 60 Ländern gezeigt worden. Am Broadway haben es Stars wie Whoopie Goldberg oder Nathan Lane gespielt. Nicht schlecht für das Werk eines bis dato unbekannten Autors, der damals Ende 20 war. Das Prinzip ist aber auch zu verführerisch! Es gibt keine Proben. Keinen Regisseur. Kein Bühnenbild. Nur einen Umschlag mit einem Text darin, den jeden Abend eine andere Performerin, ein anderer Performer vorzutragen beginnt, ohne ihn zu kennen. „Cold Reading“ nennt der Engländer das, eine Prima-vista-Lesung.
Ob auch sein jüngstes Stück „Nassim“, das jetzt am English Theatre Berlin Premiere feiert, ein vergleichbarer Hit wird, muss sich erst beweisen. Aber die Chancen stehen gut. „Nassim“ hat im vergangenen Sommer den begehrten „Fringe First Award“ beim Festival in Edinburgh gewonnen; bis zu 200 Shows, erzählt Soleimanpour, sind für 2018 schon verabredet, unter anderem in Südkorea, Japan, China.
Soleimanpours Stücke sind nicht lang, aber sie kosten ihn Zeit
Worum geht es in „Nassim“? Es wäre falsch, das zu verraten, weil sämtliche Stücke des Iraners ganz wesentlich vom Überraschungsmoment leben. Ebenso von der spezifischen Chemie, die am jeweiligen Abend zwischen dem Performer und dem Publikum entsteht. „Meine Arbeiten sind alle Teil derselben Reise“, umschreibt es der Autor selbst metaphorisch. „Aber wenn ‚Rabbit‘ das Experiment war, ob es überhaupt möglich sein würde zu fliegen, dann ist ‚Nassim‘ ein Langstreckenflug. 14 Stunden bis nach Brasilien.“
Um Ängsten vorzubeugen: Der Abend dauert 70 Minuten. Soleimanpours Stücke sind nicht lang. Aber sie kosten ihn Zeit. Sieben Jahre hat er über „Rabbit“ gebrütet, vier über „Blank“. Er wäre gern ein Stand-up-Comedian, der sein Material einfach rausschleudert. Ist er aber nicht. „Wenn jemand so langsam arbeitet“, stellt er fest, „ist er offensichtlich ein bisschen schüchtern.“ Ein Grund, weswegen Soleimanpour – der als Stimme oder Autorenfigur in seinen Texten immer präsent ist – sich nicht selbst auf die Bühne gestellt hat. Bislang. Mit „Nassim“ ändert sich das. Neben Thomas Spencer, Ruth Rosenfeld, John Keogh, Jacalyn Carley und Sean Patten, die im English Theatre jeweils an einem Abend den Umschlag öffnen, ist der iranische Dramatiker nun leibhaftig zugegen, wird den Text jedes Mal neu ergänzen oder weiterschreiben, sodass jede Aufführung eine Uraufführung ist. Wie sich das für ihn anfühlt? „Very live“, sagt er in seinem perfekten Englisch und lächelt.
Es gibt noch einen Grund, warum Soleimanpour der Form des Cold Reading treu bleibt. „Das Leben“, sagt er, „kennt doch auch keine Proben. Egal, ob Sie ein Date haben, Vater werden oder in den Krieg ziehen.“ Klar könne man durch fleißiges Probieren im Theater ein großartiges künstlerisches Ergebnis erzielen. „Aber großartig ist immer noch nicht so gut wie das Leben selbst, oder?“ Also: lieber den Umschlag aufreißen und sich ins Unbekannte stürzen. Was im Falle von „Nassim“ auch bedeutet: in die Biografie eines Mannes, der längst zwischen allen Kulturen lebt, der mit seiner Frau Farsi spricht, auf Englisch schreibt und an der Volkshochschule Deutsch gelernt hat.
Seine Stück dürfen nicht in der Heimat aufgeführt werden
Momentan lebt Soleimanpour mit einem Arbeitsvisum in Berlin. Nicht als Geflüchteter. Man muss das betonen. Zum einen, weil der Künstler in Deutschland fortwährend die Erfahrung macht, dass die Erwähnung seiner Herkunft in Kombination mit schwarzen Haaren und einem Akzent schon genügt, um die Leute automatisch ein schlimmes Schicksal annehmen zu lassen. Zum anderen verfolgt ihn seit sieben Jahren – zuletzt bis nach Edinburgh – hartnäckig das Gerücht, er sei im Iran eine Persona non grata, ein Verbannter. Was nicht stimmt.
Damals, als er „Rabbit“ schrieb, hatte er den Wehrdienst im Iran verweigert, weswegen man ihm vorübergehend den Pass entzog und er sich der Welt nur aus dem Schreibkämmerlein mitteilen konnte. Mit dieser Situation spielt das Stück auch. Aber so ging es vielen. Und den Ausweis hat er längst zurück, „im Iran war ich zuletzt vor drei Monaten“, erzählt er.
Was stimmt: dass seine Stücke in der Heimat nicht aufgeführt werden. Warum das so ist, darüber kann auch Soleimanpour nur mutmaßen. Fakt ist, dass sich die dortige Theaterszene rasant entwickelt. Neben den staatlichen Bühnen, die ihre Förderung vom Dramatic Art Center in Teheran bekommen, das dem Kulturministerium unterstellt ist, sind in der Hauptstadt „allein in den vergangenen zwei Jahren 25 freie Theater entstanden“, er selbst kennt nur einen kleinen Teil davon. Trotzdem, schränkt der Dramatiker ein, sei der Iran nach wie vor eine geschlossene Gesellschaft. Ein Land unter Sanktionen mit katastrophaler Wirtschaftslage, dessen vordringlichste Sorge nicht sei, ob auf den Spielplänen „ein Avantgarde-Autor steht, der gerade in Deutschland lebt“.
Soleimanpour blickt als Theatermacher auf den Iran
Klar wird Soleimanpour aufgrund der Unruhen im Iran momentan ständig nach seiner Sicht der Dinge, nach seinen Erwartungen gefragt. „Bin ich ein Experte für Politik? Nein. Möchte ich es werden? Noch mal nein“, sagt er dazu. Natürlich verfolgt er die Ereignisse genau. Aber ebenso liest er alles über Frau Merkel, Donald Trump, den Brexit oder die Ereignisse in Katalonien. Auf den Iran blickt er mit den Augen des Theatermachers. Es gibt eine offene Ausgangslage. Und verschiedene mögliche Handlungsverläufe, „die in einer helleren Zukunft oder einer sehr düsteren Situation für mein Land münden können“.
Die er sich, das weiß Nassim Soleimanpour, auch zunutze machen könnte. Er kennt Broadway-Produzenten, er könnte ein Stück über eine iranische Familie schreiben und wäre im Trump-Land der Einreiseverbote der willkommene politische Künstler-Exot. Nur hätte das nichts mit dem Leben zu tun.
„Nassim“, 12.1. (Premiere), 13., 15. bis 17.1., 20 Uhr, English Theatre Berlin
Patrick Wildermann
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