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Auf nach Russland. Demonstration in Charkiw am vergangenen Sonntag.
© AFP

Die russische Sprache wird zum Vorwand: Das Land mit der gespaltenen Zunge

Russland und die Russen in der Ukraine: Von Diskriminierung kann in Wahrheit keine Rede sein. Selbst ukrainische Popstars singen russisch

Nun stehen die Zeichen auf Entspannung. Die Diplomaten reden miteinander. Russland hat den Anschluss der Krim und Sewastopols vollzogen. Die Ukraine fügt sich in das Unabänderliche. Für die Europäische Union bleibt die Abtrennung der Krim völkerrechtswidrig, aber Moskau hat außer symbolischen Sanktionen nicht viel zu befürchten. Doch diese Ruhe ist trügerisch. Denn Russland ging es nie um die Krim, sondern um die Ukraine.

Anlässlich der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation am 18. März sagte Präsident Wladimir Putin: „In der Ukraine leben Millionen russischer Menschen, russischsprachiger Bürger. Russland wird deren Interessen mit politischen, diplomatischen und juristischen Mitteln verteidigen." Nicht nur für ukrainische Ohren klingen so Drohungen. Russland versteht sich als Schutzmacht für die ethnischen Russen in den Nachbarstaaten. Vor einem Jahrzehnt, als die Balten der EU beitraten, hatte der Kreml eine schrille Kampagne inszeniert. Weil Lettland und Estland die Vergabe der Staatsbürgerschaft an den Nachweis von Sprachkenntnissen und landeskundlichem Wissen koppelten, sah Moskau die Menschenrechte der russischsprachigen Bevölkerung verletzt. Das war barer Unsinn.

Nun klagt Moskau, dass die Russen in der Ukraine in ihren Rechten bedroht seien. Was Putin unter „Verteidigung der Interessen der russischen Menschen“ dort versteht, machte Außenminister Lawrow Ende März deutlich: Die Ukraine müsse entlang den russischsprachigen Gebieten föderalisiert und Russisch zur zweiten Amtssprache werden. Es ist zu erwarten, dass er damit in Deutschland Zuspruch findet. Denn was Russen und Ukrainer anbelangt, so geht es in der deutschen Öffentlichkeit drunter und drüber.

In der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb Erhard Eppler von den Russen in der Ukraine als „russischen Bürgern“. Das sind sie mitnichten. Es handelt sich um ukrainische Bürger russischer Nationalität, welche die gleichen Bürgerrechte haben wie die ethnischen Ukrainer. Helmut Schmidt bezweifelte in der „Zeit“ schlicht die Existenz einer ukrainischen Nation. Immer wieder ist zu lesen, dass die Russischsprachigen in der Ukraine „prorussisch“, also für Russland, seien. Mitunter ist gar zu hören, dass das Russische in der Ukraine habe verboten werden sollen. Das alles ist Nonsens.

Russisch ist fast wie eine Amtsprache

Richtig ist, dass die Sprachenfrage ein sensibles Thema ist. Das gilt auch für die Ukraine. Das hat mit der herausragenden Bedeutung zu tun, die Sprache für jedes Individuum, jede soziale Gruppe, jede Gesellschaft und jeden Staat hat. Dies gilt trotz aller Globalisierung, solange der Nationalstaat das attraktivste Modell politischer Ordnung bleibt.

Sprache ist mehr als ein Mittel der Kommunikation. Sie ist ein Faktor der Inklusion und des sozialen Aufstiegs. Sie ist Kultur und Kulturträger. Sprache ist eines der wichtigsten Elemente der Identitäts- und Nationenbildung. Schließlich ist Sprache ein bedeutender Macht- und Wirtschaftsfaktor. Da erstaunt es nicht, dass Sprache auch zu einem politischen Streitpunkt werden kann.

In der Ukraine wurde die Sprachenfrage mit der Perestroika virulent. Seit der Breschnew-Periode war das Ukrainische weitgehend marginalisiert worden. Nun kämpfte die Nationalbewegung Ruch für eine Aufwertung der ukrainischen Sprache und gegen die Russifizierung aller Lebensbereiche. Noch vor der Unabhängigkeit der Ukraine wurde 1989 Ukrainisch zur einzigen Staatssprache erklärt.

Von den gut 45 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine sind fast 78 Prozent ethnische Ukrainer, gut 17 Prozent ethnische Russen. Der Rest sind Angehörige anderer Ethnien. In allen Gebieten der Ukraine stellen die Ukrainer die Bevölkerungsmehrheit. Den höchsten Anteil an ethnischen Russen weisen die Gebiete Luhansk (39 Prozent) und Donezk (38,2 Prozent) auf. Die ethnische Struktur besagt noch nichts über die Sprachpraxis. Denn es gibt ethnische Ukrainer, deren Muttersprache Russisch ist. Als Faustregel gilt, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung Ukrainisch und ein Drittel Russisch als Muttersprache sprechen.

Das sieht auf den ersten Blick nach einer Spaltung der Gesellschaft aus. 1991 hatten jedoch auch die meisten russischsprachigen Ukrainer für die Unabhängigkeit von Russland votiert. Umfragen und Wahlen demonstrieren, dass sich die überwiegende Mehrheit der Russen als loyale Bürger der Ukraine begreift. Der Euromaidan fand auch im Osten der Ukraine statt. Die Sprachdifferenz an sich konstituiert keinen Konflikt. Zumal die Verfassung von 1996 regelt: „Die Staatssprache ist Ukrainisch“. Im selben Artikel 10 heißt es auch: „In der Ukraine wird die freie Entwicklung, der Gebrauch und der Schutz der russischen Sprache sowie anderer Sprachen der nationalen Minderheiten“ garantiert.

Tatsächlich ist seit 1991 nie eine rigide Politik der Ukrainisierung durchgesetzt worden. Dieser Befund gilt selbst für die Amtszeit von Wiktor Juschtschenko, der sich am stärksten dafür einsetzte. Immer blieben die Rechte der russischsprachigen Bürger und die der anderen nationalen Minderheiten gewahrt. Unter Präsident Janukowitsch wurde 2012 ein neues Sprachengesetz beschlossen. Danach erhielt in einer Region, in der mindestens zehn Prozent der Bevölkerung eine andere Muttersprache sprechen als das Ukrainische, diese Sprache den Status einer regionalen Sprache.

Damit kam es de facto zu einer weitgehenden Gleichstellung des Russischen mit der Staatssprache. Die Behördenkommunikation erfolgt auf Russisch, an Schulen wird Russisch besonders gefördert. Prüfungen an Universitäten können auf Russisch abgelegt werden. Viele Gebiete und Stadtverwaltungen hatten bereits Mitte der 1990er Jahre Russisch als offizielle Sprache eingeführt – was dem Sprachengesetz widersprach, aber geduldet wurde. In diesen Regionen dominiert das Russische im öffentlichen Raum. Die Diskriminierung einer Sprachgemeinschaft sieht anders aus.

Im Gegenteil: Das Russische ist aus Kultur und Gesellschaft der Ukraine nicht wegzudenken. Russisches Fernsehen erreicht nahezu jeden Haushalt. Printmedien, Bücher, Filme aus Russland sind wettbewerbsfähiger als die ukrainischen. In der Popkultur verbessern ukrainische Künstler ihre Vermarktungschancen, wenn sie Russisch singen, weil sie so leichter Zugang zu den Unterhaltungsmärkten in Russland, Belarus und Kasachstan erhalten. Das alles bedeutet, dass im Alltag von einer Benachteiligung des Russischen und der Russischsprachigen nicht die Rede sein kann. Insofern steht zu vermuten, dass das Gerede von Putin und Co. über den notwendigen Schutz der Russen in der Ukraine ganz anderen Zwecken dient.

Die Schriftsteller Serhii Zhadan aus Charkiw und Andrei Kurkow aus Kiew brachten es vor kurzem auf der Leipziger Buchmesse auf den Punkt: „Wir sind Bürger der Ukraine und brauchen keine ausländische Schutzmacht. Wir schreiben und kommunizieren im Alltag auf Russisch. Doch wir akzeptieren es nicht, dass eine sprachliche oder ethnische Frage als Vorwand für eine militärische Einmischung dienen darf. Was wir brauchen, ist ein anständiges und friedliches Leben. Die einzige Bedrohung dafür resultiert aus der Entscheidung der russischen Regierung, in unser Land einzudringen.“

Zhadan und Kurkow, die zu den wichtigsten Schriftstellern ihres Landes gehören und auch international Beachtung genießen, hatten dies auch Putin geschrieben. Auf eine Antwort warten sie noch heute.

Manfred Sapper Autor leitet leitet die Monatszeitschrift „Osteuropa“ in Berlin.

Manfred Sapper

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