Zum Tod von Dimiter Gotscheff: Das Lachen am Abgrund der Geschichte
Er fand Bilder vom Anfang und vom Ende der Theaterkunst: Zum Tod des großen Regisseurs Dimiter Gotscheff.
Man fällt vom Glauben ab. Es gibt keinen Theatergott. Sonst müsste er mit ansehen, wie in wenigen Jahren die besten Regiekünstler, die wirkungsmächtigsten, emphatischsten, die mutigsten, in der späten Blüte ihrer Arbeit dahingerafft werden. Pina Bausch. Jürgen Gosch. Christoph Schlingensief, und er auch noch viel jünger. Patrice Chéreau. Dimiter Gotscheff: Er starb in der Nacht von Samstag auf Sonntag nach kurzer, schwerer Krankheit, wie das Deutsche Theater Berlin mitteilte. Er wurde siebzig Jahre alt. Man spürt, wie die Hand zitterte, die diese Mitteilung schrieb.
Dort, am DT, war er zuhause, wollte im nächsten Frühsommer Becketts „Warten auf Godot“ inszenieren. Gotscheff, Godot! Schöne Witze wären das geworden. Gotscheff liebte Witze, da war er nah bei Shakespeare. In einem Interview sagte er einmal, Heiner Müller zitierend und laut auflachend: „Regisseure sind Penner, sie leben von den Almosen der Schauspieler. Und ich füge immer hinzu, man muss gut betteln können.“
Den Theaterleuten in Berlin ist das Lachen vergangen. Die Schauspieler Sven Lehmann, Otto Sander, Walter Schmidinger – tot. Ein fürchterlicher Kahlschlag. Tausend Mal sei der Theatergott verflucht, denn er existiert. Er ist grausam und erbarmungslos. Er nimmt nur noch, er gibt nichts mehr. So will er, wie es scheint, seine Anwesenheit beweisen.
Dimiter Gotscheff war ein Mensch mit dem "Sozialismus in den Eingeweiden"
Gotscheffs Theater besitzt eine dunkel funkelnde Energie, er kommunizierte mit diesen Dingen des Ursprungs und Endes. In Bulgarien geboren, hat er lange in der DDR gelebt, von 1962 bis 1979, lernte bei Benno Besson und Fritz Marquardt. Gotscheff war ein Mensch mit dem „Sozialismus in den Eingeweiden“, wie er sich ausdrückte, und ein „halber Grieche“. In ihm steckte die lebendige Antike ebenso wie die Morbidität jenes Reiches hinter dem Eisernen Vorhang, das vom Eismeer bis ans Schwarze Meer reichte.
In Got scheffs bulgarischer Heimat, wo Orpheus begraben liegen soll, schrieb der 1995 gestorbene Heiner Müller einige seiner stärksten Texte. Daran hat sich Gotscheff ein Leben lang abgearbeitet, als Schauspieler, als Regisseur Müller’scher Katastrophenlust. Zuletzt, im Mai dieses Jahres, mischte er am Münchner Residenztheater „Zement“, ein Revolutionsstück.
Mit Dimiter Gotscheff ist der letzte Müller-Krieger-Clown gegangen. Mit Gotscheff findet ein Theater an sein Ende, das aus der Kälte der Geschichte kam. Heiner und Mitko, wie man sie nannte in Theaterkantinen, verströmten menschliche Wärme, gütigen Humor. Es war etwas Archaisches um Gotscheff, in seiner Gesellschaft spürte man eine südeuropäische, homerische Gastfreundschaft. Da wurde das Glas nicht leer.
Immer wieder kam er auf Tschechow zurück
Er hat unfassbar viel, an vielen Orten – Sofia, Köln, Basel, Hamburg, Berlin natürlich – von seinem Heiner Müller inszeniert. Und immer wieder kam er auf Tschechow zurück. Herrlich der „Iwanow“ an der Volksbühne, mit Samuel Finzi, dem bulgarischen Landsmann. Finzi gehört zur Gotscheff-Familie, die 2011 mit dem Berliner Theaterpreis auszeichnet wurde. Es war einfach unmöglich, aus dieser Truppe einen oder eine herauszuheben. Almut Zilcher, Dimiter Gotscheffs Ehefrau, Margit Bendokat und Samuel Finzi spielten gemeinsam nie so fantastisch gut wie in den „Persern“, die Gotscheff 2006 im Deutschen Theater auf die Bühne brachte – mit einer fünften, stummen Person.
Das ist die inzwischen legendäre Wand, das Segel, der Raumteiler, das Riesenspielzeug, das Mark Lammert erfunden hat, der Bühnenbildner. „Die Perser“ waren seinerzeit der Theatertreffen-Jury nicht gut genug für eine Einladung, aber dafür werden sie als Modellinszenierung, als Glücksfall in den Theatergeschichtsbüchern stehen. Noch in der 100. Aufführung vor ein paar Monaten erst spürte man die ungeheure Kraft und Intelligenz dieses Wurfs. „Die Perser“ des Aischylos (in der Textfassung von Peter Witzmann und, natürlich, Heiner Müller) stehen am Beginn der Überlieferung, ein älteres Drama existiert nicht. Hier, bei Gotscheffs Meisterstück am DT (für den 27. Oktober ist eine Aufführung angesetzt), öffnet sich der Blick auf das, was Theater einmal war, was es sein kann.
Aischylos selbst hatte an den Perserkriegen teilgenommen, aber er schrieb keinen Triumphgesang, vielmehr bezeugt er Respekt dem toten Feind, dem untergehenden Imperium. Darin liegt eine Warnung. Da liegt eine Wurzel unserer Zivilisation. Es ist die Empathie, die Fähigkeit, etwas zu empfinden, wenn eine Geschichte erzählt, wenn etwas vorgetragen wird, das von Menschen und ihren Taten und ihrem Leid handelt. Dem Leid, das sie anderen Menschen antun, das dann auf sie zurückfällt. Mit ihren athletischen Kapriolen führen Finzi und Koch in den „Persern“ zugleich vor, dass es Natur und eine Lust ist, zu spielen, selbst auf dem rauchenden Schlachtfeld. Dass die Neugier auf solche Geschichten nie versiegt. Dass Könige und Feldherrn nicht erst am Ende auch Objekte dieser Geschichte sind. Und – die Wand dreht sich und dreht sich. Politische, militärische Macht ist nur ein Zwischenspurt; da drückt schon wild der Widersacher, kommt von hinten.
Gotscheff und Lammert haben „Die Perser“ später auch in Griechenland inszeniert, im antiken Theater von Epidauros. Es waren keine einfachen zwei Stunden. Und dann: Mit einem Schlag wurden die mächtigen Flughafenscheinwerfer ausgeschaltet. Nie gab es einen solchen Blackout. Landschaft und Architektur, 2500 Jahre Geschichte, tausende Zuschauer – für Sekunden weggelöscht, verinnerlicht im schwarzen Schweigen.
Aischylos’ Stück spielt bei einem Grabmal. Vielleicht war das Mitkos Kunst. Mit dem Tod spielen, um die eigene Sterblichkeit zu vergessen. „Der Tod ist ein Irrtum“, hat Müller gesagt. Er hat sich geirrt.
Rüdiger Schaper
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