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Zwischen Polizei und Kartellen: „Vivos“ von Ai Weiwei porträtiert die Hinterbliebenen eines Massakers in Mexiko.
© Ai Weiwei

Filmfestivals im Internet: Das Kino ist kein Selbstbedienungsladen

Neues Selbstverständnis, neuer Auftrag? Filmfestivals finden momentan im Internet statt – so wie das Dokfest München.

„Welche Bilder werden im Gedächtnis bleiben?“, fragt die Filmemacherin Elke Sasse zu Beginn ihres Dokumentar-Projekts „Corona-Chroniken – Ein Virus verändert die Welt“. Am 16. März kommt das Leben plötzlich zum Halt, „die Welt hält den Atem an“. Jede Katastrophe bringt ihre Bilder hervor: die repräsentativen durch die Medien (wobei die einprägsamsten oft doch nur verwaiste Straßenzüge zeigen) und die privaten, gefilmt mit Handys, in den sozialen Netzwerken.

Sasse hat sich in den vergangenen Jahren auf persönliche Geschichten spezialisiert. In „#MyEscape“ (2016) ließ sie syrische Geflüchtete ihre gefährliche Odyssee selbst filmen, in „Corona-Chroniken“ kommen die „Helden des Alltags“ zu Wort. Eine spanische Krankenschwester berichtet von einer Zehn-Stunden-Schicht ohne ausreichende Schutzvorrichtungen, ein junger Chinese erzählt, wie er gerade noch einen Flug aus Europa erwischte; nebenbei wundert er sich über die Sorglosigkeit der Deutschen.

Ein „kollektives Tagebuch der Pandemie“ nennt Sasse ihren Film, der vergangene Woche auf dem Dokfest München Premiere hatte. (Seit Samstag steht er in der Arte-Mediathek) Er ist der aktuellste Beitrag in dem 121 Filme umfassenden Programm, alles Filme, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen.

Ein Programm aus der Zeit vor Corona

In dem sehenswerten „The Second Life“ porträtiert Davide Gambino drei Tierpräparatoren, darunter Robert Stein vom Berliner Naturkundemuseum. Ai Weiwei begibt sich in dem meditativen „Vivos“ auf die Spuren eines Massakers an 50 Schülerinnen und Schülern in Mexiko, bei dem Polizei, Drogenkartelle und Regierung undurchsichtige Rollen spielen. Doch es ist Sasses Film, der die Situation des Dokfest München in diesem Jahr exemplarisch umschreibt.

Am 17. März kündigte der künstlerische Leiter Daniel Sponsel an, dass das Dokumentarfilmfestival 2020 nicht im gewohnten Rahmen stattfinden könne: Das Programm wird ins Internet verlegt. Im 35. Jahr stand das Dokfest plötzlich ohne Ort da, für ein Publikumsfestival – 2019 wurden 52 000 Besucher gezählt – eine Katastrophe. Sponsel nimmt es mit Humor. Mit „Das Kino ist tot, es lebe das Kino!“ ist das Grußwort von ihm und seiner Ko-Kuratorin Adele Kohout überschrieben.

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Der Entschluss, eine Online-Edition des Dokfest ins Leben zu rufen, wurde binnen einer Woche gefällt, vorher mussten die Filmemacherinnen und Filmemacher – und nicht zuletzt die Sponsoren – überzeugt werden. „Eine Absage kam für uns nicht infrage“, erzählt Sponsel am Telefon. „Anfang März stand das Programm mit damals 159 Filmen. Wir mussten danach mit jedem einzelnen Produzenten noch einmal reden.“

Ganz so viele Filme sind es im finalen Programm nicht mehr, aber Sponsel versteht auch, dass eine Weltpremiere im Internet nicht allzu verlockend klingt. „Bestimmte Filme brauchen einfach das Event, das wird sich hoffentlich nie ändern.“

Experiment und wirtschaftliche Notwendigkeit

Sponsel sieht das virtuelle Dokfest auch als Experiment – von einer wirtschaftlichen Notwendigkeit ganz zu schweigen. „Der Dokumentarfilm hat es in den vergangenen Jahren im Kino nicht leicht gehabt. Es gibt zu viele Neustarts, die Filme haben eine zu kurze Verweildauer auf den Leinwänden. Wir begeben uns auf einen Markt, der sehr hart umkämpft ist. Aber wir bringen zum Glück bereits ein Publikum mit.“ Doch was macht das mit der „Erfahrung Filmfestival“, wenn der Veranstaltung der Ort entzogen wird?

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Diese Frage stellen sich gerade einige Filmfestivals. Sie ist für kleine Nischenfestivals zweifellos leichter zu beantworten als für Tanker wie das Filmfestival Cannes, dessen Absage seit dem Wochenende offiziell ist. Diese Woche hätte sich an der Croisette eigentlich die internationale Filmbranche getroffen.

Am Sonntag ging das Trickfilmfestival Stuttgart zu Ende, vom 13. bis 19. Mai finden die Oberhausener Kurzfilmtage statt, alles online. Mit diesem Schritt verbindet sich auch die Hoffnung, Reichweiten zu vergrößern und ein Publikum zu erreichen, dass sich Filme heute nicht mehr im Kino ansieht.

Filmfestivals sind ein Ort der Begegnung

Lars Henrik Gass, der seit 20 Jahren die traditionsreichen Kurzfilmtage leitet, nennt die Online-Ausgabe eine „fragile Antwort“ – nicht nur auf die aktuelle Krise, sondern auch auf die Rolle von Filmfestivals inmitten eines Medienwandels. Man habe für Oberhausen unter „systemischem Druck“ eine Lösung gefunden, hinter die man nicht mehr zurücktreten werde.

Gleichzeitig dürften Filmfestivals nicht als bloßes Programmangebot missverstanden werden, es handele sich um Orte der Begegnung. Die Beschränkung auf das Internet, so Gass, „berührt Selbstbild und Auftrag eines Filmfestivals substantiell“.

Louise Kjeldsens "Fat Front" über Body-Positivity lief schon vor München erfolgreich auf Dokumentarfilmfestivals.
Louise Kjeldsens "Fat Front" über Body-Positivity lief schon vor München erfolgreich auf Dokumentarfilmfestivals.
© Dokfest München

Ein vertrautes Gefühl stellt sich beim Browsen durch das Programm des Dokfest München glücklicherweise doch ein: Überforderung. Was fehlt, ist der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die word-of-mouth-Empfehlungen, die die Programmplanung wieder über den Haufen werfen.

Über der Website des Dokfests sind fast alle Filme jederzeit abrufbar, was die Pflege des Terminkalenders überflüssig macht. Man sitzt vor dem Programm wie vor der Auslage eines Bonbongeschäfts und weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Plötzlich beginnt man, die Unpässlichkeiten des Festivalalltags ein wenig zu missen: das Hetzen zwischen zwei Kinosälen, das Warten am Einlass.

Inhalte im Netz brauchen einen reellen Preis

Die Exklusivität ist das große Plus im Vergleich mit „All-you-can-see“-Angeboten wie Netflix, betont Sponsel. Das Dokfest bietet einen Festivalpass an, aber jeder Film kostet Eintritt, ganz wie im regulären Kino. „Hochwertige Inhalte im Netz müssen einen reellen Preis haben“, sagt Sponsel. „Wir sehen uns da in der Verantwortung. Da wurden in der Frühzeit der Geschäftsideen im Internet viele Fehler gemacht.”

2020 wird ein trauriges Festivaljahr, so viel steht fest. Die Berlinale war das letzte internationale Filmfestival, das vor dem Ausbruch der Pandemie über die Bühne ging. Ob Venedig Anfang September stattfinden kann – eventuell im Tandem mit Cannes –, steht in den Sternen.

Aber auch die Berlinale spürt die Folgen: Viele Filme, die im Februar ihre Premiere feierten, wurden in ein Vakuum entlassen, wie Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek es beschreibt. Kinostarts sind verschoben, womit sich die Berlinale einer zentralen Aufgabe beraubt sieht. Ohne die Verwertungskette „Kino“ operiert ein Filmfestival im Nichts.

Für das Online-Festival „We Are One“ haben sich vom 29. Mai bis 7. Juni zwanzig Filmfestivals zusammengeschlossen, darunter die Berlinale, Cannes, Venedig, Toronto, Sundance, Locarno, Mumbai und Sydney, unter der Schirmherrschaft von Tribeca und Youtube(!).

Die Botschaft geht momentan vor Inhalt

Berlinale-Leiter Carlo Chatrian will das Festival jedoch nicht als Ersatz verstanden wissen, es gehe nicht darum, ausgefallene Weltpremieren online nachzuholen. „Wir sind uns mit unseren Partnern darin einig“, erklärt Chatrian, „dass die Botschaft momentan relevanter ist als der Inhalt.“

Man sehe sich daher auch nicht in Konkurrenz zu anderen Streamingportalen. „We Are One“ sei eine einmalige Veranstaltung, auf der „alle großen Festivals ihre Kräfte vereinen und Samples aus ihrem kuratorischen Programm präsentieren“.

An eine Rückkehr aus dem Lockdown ist für Kinos und Filmfestivals im Moment noch nicht zu denken. Das Mantra, dass aus der Krise auch Chancen erwachsen, klingt da wie ein schwacher Trost. Filmfestivals wie Cannes und die Berlinale werden auch nach der Pandemie garantiert weiter existieren. Andere müssen sich nach der Rückkehr in die Normalität möglicherweise mit neuen Realitäten anfreunden. Mit Filmfestivals zum Beispiel, die nicht mehr auf einen festen Ort beschränkt sind. So eine Krise schafft auch Tatsachen.
Das Dokfest München läuft bis zum 24. Mai. www.dokfest-muenchen.de. Die Kurzfilmtage Oberhausen beginnen am 13. Mai www.kurzfilmtage.de

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