Theater: Das Kapital unter Verdacht
Soeben wurde der Mülheimer Dramatikerpreis 2007 an die Berliner Theatergruppe Rimini Protokoll verliehen. Nun gibt es Streit.
Soeben wurde der Mülheimer Dramatikerpreis 2007 an die Berliner Theatergruppe Rimini Protokoll verliehen. Das macht Furore. Es ist die wichtigste Auszeichnung für neue deutschsprachige Stücke. Aber dass sich die Jury aus Kritikern, Autoren und Theaterleuten ebenso wie das Publikum des Mülheimer Festivals unter den acht (von über 100) ausgewählten und in Deutschland, der Schweiz oder Österreich uraufgeführten Stücken ausgerechnet für Riminis „Karl Marx: Das Kapital. Erster Band“ entschieden hat, entfacht Reaktionen, die zwischen „Triumph der Innovation“ und „Bankrott des Dramas“ pendeln. Vor allem der hochverdiente Frankfurter Verlag der Autoren protestiert.
Dabei geht es nicht um Marx, sondern um die angebliche Vermurksung des Begriffs vom „Stück“ und notabene Stückeschreibers. Der „Marx“-Inszenierung werden vom Verlag der Autoren nicht die „intelligente Regie und eine neue Theaterform“ bestritten. Doch will man die beiden Rimini-Inszenatoren Helgard Haug und Daniel Wetzel nicht als „Dramatiker“ gelten lassen: weil Haug & Wetzel in der von ihnen erfundenen Manier wieder keine Berufsschauspieler beschäftigen, sondern „Experten des Alltags“ deren eigene Erfahrungen mit Marx (und Mao), mit dem „Kapital“ und diversen Anlageformen des Kapitals vorführen lassen.
Tatsächlich ist das eine hochpersönliche Form von Rollen-Spiel. Rimini Protokoll haben mit ihren auch zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Produktionen wie „Deadline“ oder „Wallenstein“ den Begiff des Dokumentartheaters revolutioniert. Sie suchen sich authentische Personen, vom Sterbehelfer bis zum Vietnamkrieger, vom Realpolitiker bis zur Sterndeuterin, und entwickeln mit ihnen einen durchgeschriebenen Sprech- und Handlungstext (den sie „Drehbuch“ nennen). Damit aber ähnelt „Karl Marx“ einem traditionellen Theaterscript wesentlich mehr als beispielsweise Elfriede Jelineks in Mülheim mehrfach ausgezeichnete „Textflächen“-Prosa ohne festgelegte Rollen. Auch wurde in Mülheim schon vor zehn Jahren Urs Widmers zusammen mit einer Zürcher Schauspielgruppe entstandenes Stück „Top Dogs“ ausgezeichnet: eine Recherche unter arbeitslosen Managern. Nur wurden die im Unterschied zu Rimini nicht von den Managern dargestellt, sondern von Schauspielern, deren Rollenname jedoch ihr jeweils eigener war. „Top Dogs“ wurde danach ein Welterfolg – im Programm übrigens des Verlags der Autoren.
Was ist Kunst? Was ein Theaterstück? Heute gibt’s dafür kein Dogma mehr. Riminis „Stücke“ sind jedenfalls keine Improvisationen oder nur performative Einmal-Aktionen. Sie wären auch von anderen verfremdbar, interpretierbar, nachspielbar. Oder sagen wir’s mit einer Anekdote. Als einmal die Betrachterin einer Picasso-Skizze zu dem Künstler sprach, „Das kann meine kleine Tochter auch“, antwortete Pablo P.: „Natürlich. Aber erst, nachdem ich es gemacht habe!“
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