Kultur: Das kalte Gefühl auf dem Rücken
Von „Tschick“ zu „Sand“: Er liebte die Kunst der existenziellen Unterhaltung. Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ist tot.
Das Seltsame ist, dass man als regelmäßiger Leser von Wolfgang Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur“ immer geglaubt hat: Der schafft das, so schnell stirbt es sich auch mit einem Glioblastom, einem bösartigen, unheilbaren Gehirntumor nicht. Und hatte Wolfgang Herrndorf die ihm bei der Diagnosestellung prognostizierte mittlere Überlebenszeit von zwei, vielleicht drei Jahren nicht schon um mehrere Monate überschritten? Auch der todkranke Schriftsteller, Autor der Erfolgsromane „Tschick“ und „Sand“ (ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse) bestärkte sich und die Blog-Leserschaft immer wieder: in ihrem Glauben, in seinem Lebenswillen.
Am 24. Juni dieses Jahres notiert er: „Ich habe eine woher auch immer recht genaue Vorstellung von meiner verbleibenden Zeit, die sich von Zeit zu Zeit ändert. Gerade ist es dieses Jahr. Es kann aber auch zwei, drei oder fünf Jahre sein, das ist möglich, sage ich zu C., um sie zu belügen, als hätte ich noch Hoffnung.“ Und am 15. Juli noch, da sein Arzt feststellt, dass die Chemotherapie nicht mehr helfe und nach schon drei Operationen eine weitere sinnlos sei, ist im Gespräch der beiden von mehreren Monaten die Rede: „Zwei, drei Monate. Kann auch sein, vier. Kann sein, fünf. Mit Glück auch sechs.“, so der Arzt.
Dieses sehr kleine Glück war Wolfgang Herrndorf nicht beschieden. Und es war für ihn, gerade wegen zunehmender, ihm Schreiben und Sprechen unmöglich machender neurologischer Ausfallserscheinungen, auch keine Perspektive mehr. Er hat sich, so steht es jedenfalls in einem Tweet seiner Kollegin und Freundin Kathrin Passig, in der Nacht zum Dienstag „am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.“ Der Rowohlt Verlag hat Herrndorfs Tod bestätigt, allerdings nicht die Todesart. Wie auch immer: So richtig glauben möchte man es selbst jetzt nicht, so überraschend und traurig ist dieser Tod, trotz des Blogs, der sich natürlich gerade zum Ende hin auch als Chronik eines angekündigten und gewissen Todes lesen ließ.
Begonnen hat Wolfgang Herrndorf damit Anfang März 2010, nachdem bei ihm nach schweren Kopfschmerzattacken und psychotischen Episoden eben jene Erkrankung diagnostiziert worden war. In tagebuchartigen Einträgen berichtete er fortan regelmäßig nicht nur über seine Arzt- und Krankenhausaufenthalte, über seine Verzweiflung, seine Hochs und Tiefs, seinen Alltag in Berlin-Mitte, sondern auch über seine Lektüren und seine schriftstellerische Arbeit. An diese machte er sich nun, anders als in den Jahren zuvor, mit einem fast manischen Eifer: „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem“, schrieb Herrndorf damals im Blog. „Tschick“ ist das erste Resultat dieses Eifers, Herrndorfs inzwischen über eine Million Mal verkaufter, herrlich komischer, „endkomischer“ Abenteuer- und Roadroman über zwei jugendliche Ausreißer, die mit einem alten Lada in die rumänische Walachei wollen, aber über Brandenburg nicht hinauskommen.
„Tschick“ erschien 2010 kurz vor der Frankfurter Buchmesse, war dort aber kein großes Thema, trotz einiger positiver Besprechungen gleich nach der Veröffentlichung. Erst danach fing der Roman an, zu einem Bestseller zu werden, was im Verein mit der Krankheitsdiagnose eine ganz eigene Tragik entwickelte. Und zwar nicht nur, weil es dann fieserweise immer wieder mal hieß, „Tschick“ sei nur deshalb so ein Erfolg geworden, weil Herrndorf mit dem Blog seine Krankheit öffentlich gemacht habe (als würde es nicht Hunderttausende von „Tschick“-Lesern geben, die sich nur für das Buch und gar nicht für den Autor interessieren).
Nein, die Tragik bestand auch darin, dass Wolfgang Herrndorf vorher schon durchaus genaue Vorstellungen von seiner schriftstellerischen Tätigkeit hatte, beim Schreiben allerdings keine Eile walten ließ: „Ich möchte die Bücher schreiben, die ich selber gern lese, im Grunde ist das Unterhaltungsliteratur. Ich lese gerade die Interviews mit Vladimir Nabokov, ,Strong Opinions’, da sagt Nabokov einmal, gute Literatur erkenne man daran, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. Genau so ist es, so muss es sein!“
Diese Worte äußerte Herrndorf im August 2004 in einem Interview. Er war gerade aus Klagenfurt vom Ingeborg-Bachmann-Wettlesen zurückgekehrt und mit dem Publikumspreis ausgezeichnet worden: für „Dieseits des Van-Allen-Gürtels“, eine schöne, melancholische, tatsächlich sehr unterhaltsame Geschichte über einen 13-Jährigen, der sich auf dem Balkon eines Berliner Mietshauses mit einem Mittdreißiger unterhält und von diesem bezüglich des Wahrheitsgehalts von Mondlandungen aller Illusionen beraubt wird.
Wolfgang Herrndorf hatte zu diesem Zeitpunkt sein Debüt „In Plüschgewittern“ (im Jahr 2002) veröffentlicht. Das Buch ist eine Art später Berlinroman- und Popliteraturausläufer, der von einem jungen, orientierungslosen Mann erzählt und was dieser auf einer kleinen Odyssee von Nürnberg (auf der Autobahn) über Hamburg (beim Bruder) bis Berlin und hier speziell auf Partys, in einer Wohngemeinschaft und dem Kaffee Burger erlebt.
Der Roman erschien durch die Vermittlung eines Agenten ausgerechnet bei dem Verlag, für den er jahrelang als Buchumschlagszeichner (u. a. von der „Hagener Trilogie“ von Frank Schulz) gearbeitet hatte: dem Haffmanns Verlag.
Geboren 1965 und aufgewachsen in Hamburg, absolvierte Wolfgang Herrndorf zunächst ein Malereistudium in Nürnberg und schlug sich als Zeichner durch, unter anderen für die „Titanic“ und auch den Tagesspiegel. Obwohl er des Zeichnens und Malens überdrüssig war, hielt er sich mit dem Schreiben und den Prognosen hinsichtlich seiner Schriftstellerzukunft nach dem Erfolg in Klagenfurt dezent zurück. Was er unter anderem mit den Erfahrungen seines Studiums begründete: „Ich fand es immer deprimierend, wie großartig die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts gewesen war. Alles was danach kommt, halte ich für Unsinn oder zumindest Lichtjahre entfernt.“
Diesen Respekt hat sich Herrndorf auch vor der Literatur bewahrt, zumal vor der, die er bewunderte – und dieser Respekt hat ihm bezüglich des eigenen Schreibens gesunde Skrupel auferlegt. In seinem Blog sprach er einmal davon, nach der Wiederlektüre von Autoren wie Dostojewski, Nabokov oder Proust, von bestimmten Gefühlen, die er in der Jugend gehabt und nun wieder hätte: „Dass man teilhat an einem Dasein und am Bewusstsein von Menschen, an etwas, worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat (...), und dass es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße. Einen Unterschied zwischen dem existenziellen Trost einer großen Erzählung und dem Müll.“
Letzteren hat er in seinem schmalen, aus bislang gerade einmal vier Büchern bestehenden Oeuvre nie abgeliefert. Existenziellen Trost mit seinen Erzählungen zu spenden – das hat er zumindest versucht. Und perfekte, literarisch anspruchsvolle Unterhaltung, die gibt es in jedem seiner Bücher: in der Erzählsammlung „Dieseits des Van-Allen-Gürtels“, die dann 2007 veröffentlicht wurde; in „Tschick“ sowieso, wobei in diesem Roman nicht nur die Komik regiert, sondern auch Lieder von Einsamkeit, Außenseitertum, Freundschaft und erster Liebe gesungen werden. Und natürlich auch in „Sand“, Herrndorfs 2011 veröffentlichtes Meisterwerk, einer vielschichtigen, Kapitel für Kapitel und Szene für Szene kunstvoll arrangierten Mischung aus Wüstenroman, Agententhriller und, wie er selbst das in der ihm eigenen Nonchalance gern sagte, „Trottelroman“, angesiedelt irgendwo in Nordafrika im Jahr 1972. „Sand“ musste man der Krankheit wegen schon als die Erfüllung eines Versprechens verstehen. Aber was hätte da noch alles kommen können!
In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur hatte Wolfgang Herrndorf etwas Solitäres: mit seinem trockenen Humor, seiner ihm eigenen, vorsichtigen Distanz, einer sympathischen Verpeiltheit und auch seiner Ambitoniertheit. Er war ein passionierter Danebensteher, ohne sich den Gepflogenheiten des Betriebs vollends verweigern zu wollen, wie zum Beispiel die Teilnahme in Klagenfurt bewies (und wäre er nicht so krank gewesen, hätte er sicher auch in Leipzig seinen Buchpreis in Empfang genommen).
Verzweifelt gegen den Tod angeschrieben hat er vermutlich so lange, wie es ihm möglich war. Einen Flaneursroman schreibe er, hörte man dann hin und wieder. Wäre Flanieren nicht eine einzige Schönfärberei für Herrndorfs Wege der letzten Jahre, dann ist der Blog für sich genommen auch das: mit seinen Einträgen über das Baden im Plötzensee, das Besuchen der Freunde, dem Radfahren und Laufen in seinem Viertel, in der Nähe des von ihm häufig besuchten „Deichgrafen“, einem am Weddinger Nordufer gelegenen Restaurant und Café. Und von „Isa“ ist in „Arbeit und Struktur“ immer wieder die Rede, einem anderen Romanprojekt, an dem Herrndorf arbeitete und das er sich bis zuletzt vor- und gegenlesen ließ, immer fragend, ob es für eine Veröffentlichung tauge.
Im letzten Eintrag seines Blogs, der nach der Todesmitteilung aus dem Netz genommen wurde, steht nur ein Wort: „Almut“. Das ist der Name der vor einer Woche an Krebs gestorbenen Berliner Musikerin Almut Klotz.
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