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Ausgehmeile. Die Fußgängerzone im Latin Quarter, geschmückt mit Bannern und Flaggen zur Europäischen Kulturhauptstadt 2020, ist Tag und Nacht belebt.
© Imago

Weltoffen, liberal, wunderschön: Das ist Galway - Europas Kulturhauptstadt 2020

Galway hat sich im Rennen um den Titel der Kulturhauptstadt neben Rijeka durchgesetzt. Was macht die Region an der irischen Westküste so besonders? Ein Besuch.

Seit Samstag erleuchten Freudenfeuer die Region Galway an der irischen Atlantikküste. Ballinasloe, Athenry, Tuam, An Spidéal - jeden Abend wird ein anderes Dorf oder Städtchen vom Flammenschein erhellt, dazu unterhält ein Trupp von Gauklern, Tänzern und Theatermachern die herbeigeeilten Schaulustigen.

Am kommenden Samstag kulminiert die Tournee in der gleichnamigen Hauptstadt der Region mit einer zentralen Veranstaltung, zu der eigens Irlands Präsident Michael Higgins aus Dublin angereist kommt: Stadt und Umland feiern ihren neuen Status als Europäische Kulturhauptstadt 2020.

Ausgerechnet Galway, maulte der Rest von Irland, als im Juli 2016 die zuständige Kommission den begehrten Titel vergab. Steigt im „kulturellen Herz des Landes“ (Eigenwerbung) nicht ohnehin jedes Jahr das zweiwöchige Theater- und Kulturfestival, die Filmwoche Film Fleadh, das Festival früher Musik und das Jazz-Festival, vom prestigeträchtigen Galopprenntreffen Galway Races ganz zu schweigen?

All dies und noch viel mehr kann genießen, wer sich in diesem Jahr an die Peripherie des Kontinents begibt. Geschickt haben die Organisatoren von Galway2020 die Einwände aufgenommen und kurzerhand ihre Basis verbreitert: Ausdrücklich gilt der Kunst- und Kulturmarathon mit 1900 Veranstaltungen und einem Gesamtbudget von 39 Millionen Euro nicht nur der munteren Universitätsstadt, sondern auch der umliegenden Grafschaft gleichen Namens mit ihren romantischen Bergen und einsamen Stränden.

Das dicke Programm ist nicht umsonst durchgängig zweisprachig gedruckt. Die irische Sprache und Kultur spielte in der Planung eine große Rolle, immerhin leben viele der rund 140000 Gälisch-Sprecher in Connemara westlich der Stadt und auf den Aran-Inseln in der Bucht von Galway.

Wild-romantische Westküste

Steinig genug war der Weg zum Kulturjahr: „Das ging nicht sehr glatt“, berichtet ein Insider mit elegantem Understatement. Mehrfach wurde die Führungsspitze von Galway2020 ausgewechselt, schließlich eine Londoner Agentur zu Hilfe gerufen.

Die Website galway2020.ie lässt bis heute klare Strukturen vermissen. Erst am vergangenen Montag verschob der Stadtrat nach hitziger Diskussion eine Entscheidung darüber, ob man dem prestigeträchtigen Unterfangen weitere 2,5 Millionen Euro widmen kann und will.

Wie sehr sich die wild-romantische, ländliche Westküste Irlands von der Metropole Dublin im Osten unterscheidet, lässt sich auf der knapp 200 Kilometer langen Bahnfahrt nachvollziehen, die der Intercity mit sechs Zwischenstopps in 2:15 Stunden zurücklegt.

Oder man landet auf dem nächstgelegenen Flughafen Shannon, wo aussteigende Passagiere von penetrantem Güllegeruch empfangen werden. Anschließend gilt es, noch eine waghalsige, fast zweistündige Busfahrt über holprige Landstraßen zu bestehen; der Expressbus schafft es über die Autobahn deutlich schneller, verkehrt aber selten.

Pulsierende und weltoffene Stadt

Wer es geschafft hat, landet in einer pulsierenden, Fremde mit offenen Armen willkommen heißenden Stadt von 88 000 Einwohnern, zu denen sich zu Semesterzeiten 25 000 Studierende gesellen.

Galway verdankt seine Prominenz der strategisch günstigen Lage zwischen dem 40 Kilometer langen Süßwassersee Lough Corrib und dem Nordatlantik. 1232 von einem Anglo-Normannen erobert, wurde die Stadt jahrhundertelang von einer Oligarchie als weitgehend unabhängiger Stadtstaat regiert.

Dublin, umso mehr London waren weit weg, Handel trieb man vor allem mit Spanien und Frankreich übers Meer. Daran erinnert die Adresse des Organisationsbüros Galway2020 in der Straße der Kaufleute (Merchants Road), wenige Schritte vom Hafen entfernt.

Ein Viertel der Bevölkerung kommt von außerhalb

Weltoffen und liberal sind die Galwegians geblieben. Ein Viertel der Bevölkerung hat seinen Geburtsort außerhalb Irlands, seit 15 Jahren gehört der Germanistik-Professor Hans-Walter Schmidt-Hannisa dazu.

„Galway ist die schönste Stadt in Irland“, urteilt der weitgereiste Akademiker und schwärmt von der Altstadt, dem Corrib-Fluss und seinen Kanälen, lobt die enorme Energie, die von Galway ausgeht, und empfiehlt einen Nachtspaziergang: „Die Straßen sind auch um 3 Uhr morgens noch voll.“

Tatsächlich drängen sich in der Fußgängerzone der Shop und William Street selbst im Januar um Mitternacht leichtbekleidete junge Leute vor Musikkneipen und Schnellimbissen. Der haarfeine, eiskalte irische Regen scheint ihnen nichts anhaben zu können, auch den Musikanten nicht, die an jeder zweiten Straßenecke irische Volkslieder erklingen lassen.

Amerikaner suchen nach ihren kulturellen Wurzeln

Ein Ziel für Massentourismus ist Irlands Westküste nie gewesen. Amerikaner suchen nach ihren kulturellen Wurzeln, Schotten und Engländer genießen die unberührte Landschaft. Zwei Generationen deutschsprachiger Leser wandelten auf den Spuren Heinrich Bölls, das „Irische Tagebuch“ im Gepäck.

Inzwischen gehören die Zustände zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts, die der spätere Nobelpreisträger 1957 beschrieb, der tiefen Vergangenheit an.

Die Wende hat viel mit dem Beitritt zur damaligen EWG 1973 zu tun, als das 1921 unabhängig gewordene Land endgültig aus dem Schatten der einstigen Kolonialmacht Großbritannien trat. Aus dem tiefarmen Land, das Jahrhunderte lang vor allem Menschen exportierte, ist ein wohlhabender EU-Nettozahler und Anziehungspunkt für Immigranten geworden. Die deutschen Nostalgie-Touristen sind jungen Spaniern und Italienern gewichen, die als Erasmus-Studierende die Stadt bevölkern.

Boomende Wirtschaft

Hauptsache, die Besucherscharen kommen nicht mit dem Auto! Schon jetzt stöhnen die Galwegians über den täglichen Verkehrsinfarkt. Zeiten und Distanzen, die Berufspendler im Auto verbringen, nehmen stetig zu, was an der boomenden Wirtschaft und einer vollkommen unzulänglichen Regionalplanung liegt.

An der Peripherie Galways wie anderer irischer Städte bepflastern skrupellose Baulöwen die Landschaft mit seelenlosen Siedlungen – ohne Baum, ohne Strauch, nur selten ein Laden und gewiss kein Anschluss ans schwachbrüstige lokale Bussystem.

So prangen auf der Hauptausfallstraße Galways zwar zwei schöne Busspuren, benutzt werden sie viel zu wenig. Und daneben stehen die Pendler einspurig im Stau.

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