Dorothy Iannone in der Berlinischen Galerie: Das Hohelied des Körpers
Endlich: Dorothy Iannone war immer eine bekannte Figur in der Stadt, würdigt die Berlinische Galerie die amerikanische Malerin mit einer fulminanten Retrospektive.
Den Anfang macht ein großes schwarzes Bild, ein Urschlund geradezu. Darauf ist ein roter Ball zu sehen, es könnte die Sonne sein. Dazu treten abstrakte Formationen in Beige und Weiß aus der Finsternis hervor. „Remembered Child“ hat Dorothy Iannone das 1961 entstandene Gemälde genannt. Knapp dreißig Jahre später erwarb es der damalige Direktor der Berlinischen Galerie, gezeigt hat er es nie. Nicht dass die Malerin vergessen worden wäre, Dorothy Iannone war immer eine bekannte Figur in der Stadt, seit sie 1976 mit dem Daad-Stipendium nach Berlin gekommen und geblieben war. Nur im Museum ausgestellt wurde sie nie. Auch das Kupferstichkabinett, das bereits zwei Jahre zuvor ihre Serie „Berlin Beauties“ erworben hatte, konnte sich in all den Jahren nicht dazu durchringen, die amerikanische Malerin und ihre Ode an die Stadt zu würdigen.
Rückblickend ist das alles nicht zu verstehen. Da lebt und arbeitet bis heute eine Heroine der Kunst in nächster Nachbarschaft, die in ihrer großen Altbauwohnung am Olivaer Platz den Schatz ihres jahrzehntelangen Schaffens hütet und kein Museumskurator kam bislang, ihn zu heben. Erst jetzt, mit 80 Jahren, wird die Künstlerin auch von den Institutionen entdeckt, nachdem junge Galeristen und Kuratoren ihr wieder auf die Spur gekommen sind. So war sie 2005 auf der 4. Berlin-Biennale zu sehen. Thomas Köhler stieß auf Iannone und ihr Frühwerk „Remembered Child“ im Depot der Berlinischen Galerie, als er als neuer Direktor die Depotbestände sichtete – ein Anfangstreffer und die Geburtsstunde einer großartigen Schau in seinem Haus, die der Künstlerin endlich auch in einem Berliner Museum die Anerkennung verschafft, die sie seit Jahren verdient.
Naive Malerei? Comic der sexuellen Befreiung? Feministische Post-Hippie-Flower-Power-Kunst?
Ähnlich wie sich „Remembered Child“aus dem Dunkel des Depots langsam an die Oberfläche arbeitete, entwickelte sich Schritt für Schritt auch das Werk der Ausnahmekünstlerin, deren Ruhm keineswegs auf abstrakter Malerei gründet, mit der sie nun einmal in der Sammlung der Berlinischen Galerie vertreten ist. Nein, Iannone ließ den Abstrakten Expressionismus schon bald hinter sich und erlangte ab Mitte der sechziger Jahre in ihrer Malerei eine Eindeutigkeit und Präzision, die gerade jene Nichtachtung zur Folge hatte – denn so genau wollten es die offiziellen Kuratoren gar nicht wissen, wen und wie und warum die Dame liebte.
Die Schwärze auf „Remembered Child“ weicht einer sich steigernden Farbfreudigkeit, aus den abstrakten Allover-Ornament schälen sich zunehmend Figurinen heraus: Männer, Frauen in expliziter Geschlechtlichkeit. Das Flächige, die Pattern bleiben, darin bricht sich ein Erzählstrom Bahn, eine geradezu orgiastische Darstellung aller Einzelheiten einer liebenden Frau, die bis vor kurzem den Museumsbetrieb noch überforderte. Am Anfang mag es Prüderie gewesen sein angesichts all der offenbarten Genitalien und Positionen, später Ratlosigkeit, wie dieses Werk einzuordnen sei – als naive Malerei, als Comic der sexuellen Befreiung, als feministische Post-Hippie-Flower-Power-Kunst? Die Hartnäckigkeit, mit der die Autodidaktin ihren Stil entwickelte und ihr Thema der allumfassenden Liebe beibehielt, lässt sie nun über alle Etikettierungen triumphieren. Iannone ist ihre eigene Kategorie und ihre Retrospektive mit 150 Werken – Gemälde, Objekte, Bücher, Filme – ein Fanal.
Hier hat sich jemand mit solcher Unbedingtheit die Durchdringung von Kunst und Leben zu eigen gemacht, dass erst die zeitliche Distanz zur Libertinage der frühen Jahre den freien Blick ermöglicht. Immer wieder sah sich die Künstlerin mit Zensur konfrontiert. So wurden ihre Werke 1967 kurz nach Eröffnung in der Stuttgarter Galerie Hans Mayer konfisziert und erst am letzten Tag der Schau wieder zurückgegeben. Zwei Jahre später forderten Künstlerkollegen einer Gemeinschaftsausstellung in der Kunsthalle Bern das Überkleben der gewagtesten Stellen auf ihren Bildern, sie fühlten sich von so viel Freizügigkeit düpiert. Die indizierte Malerin zog es stattdessen vor, ihre Bilder abzuziehen. Eine Präsentation in England kam erst gar nicht zustande, die Behörden kassierten ihre Bilder schon am Flughafen ein. Statt entmutigt zu werden, ließ sich Iannone zu einem Künstlerbuch über Zensur inspirieren.
Mittlerweile würde man ihre Bilder zweifellos als jugendfrei einordnen; umso mehr zeigt sich an ihnen unsere veränderte Wahrnehmung. Was gestern noch als pornografisch galt, ist heute allgemein als Kunst anerkannt. Dorothy Iannone ist hier mutig vorangegangen, hat die edelste Aufgabe von Avantgarde wahrgenommen und Grenzen verschoben. Aus heutiger Sicht ist sofort zu erkennen, dass in ihren Bildern durch die künstlerische Sublimierung eine ästhetische Qualität geschaffen wurde, die mit Schlüpfrigkeiten nichts zu tun hat.
In der aktuellen Diskussion um die Zulässigkeit freizügiger Bilder zeigt ihr Werk sehr genau, warum gute Kunst als pornotopischer Raum nicht taugt. Sie schafft eine andere Wirklichkeit und ist damit erotischen Fantasien nur mittelbar zugänglich. Diese klare Trennung fällt bei Fotografie sehr viel schwerer. Kommen Kinder ins Spiel, wird es noch komplizierter. Insofern war es die richtige Entscheidung des Essener Folkwang-Museums, die Ausstellung der Polaroids von Balthus abzusagen, die dem alternden Künstler als Vorlage für seine Gemälde dienten. Es gilt die Kinder zu schützen, auch im Museum. Dorothy Iannone ist das starke Gegenbeispiel, sie inszeniert sich selbst, filmt sich für ihre Videobox „I Was Thinking Of You“ sogar beim Masturbieren, sie bleibt die Schöpferin.
Üppige Ornamentik, überbordende Details
Da war es nur konsequent, dass die Künstlerin Dieter Roth als ihre Muse bezeichnete. Die beiden hatten sich 1967 kennengelernt, als Iannone mit ihrem damaligen Mann James Upham und dem Fluxus-Künstler Emmett Williams nach Island reiste, wo Roth damals lebte. Der nun gezeigte Bilderfries „Icelandic Saga“ beschreibt die denkwürdige Begegnung, in deren Folge Iannone das Luxusleben einer malenden New Yorker Millionärsgattin hinter sich lässt und sich endgültig der Kunst und ihrer Mission der Liebe verschreibt. Sie folgt Roth, lebt mit ihm abwechselnd in Reykjavik und Düsseldorf, wo er an der Kunstakademie lehrt.
Die Beziehung hält sieben Jahre, dann zieht Iannone nach Südfrankreich, von wo aus sie sich für ein Berlin-Stipendium beim Daad bewirbt. Da ist sie längst eine bekannte Figur aus dem Umkreis der Fluxus-Künstler, doch gilt sie vielen immer noch als Anhängsel von Dieter Roth. Wie wenig die Künstlerin mit Fluxus zu tun hat, wie eigenständig sie ist und zugleich ihrem großen Inspirator Roth noch immer zugetan, das zeigt die Ausstellung in der Berlinischen Galerie ebenfalls. Iannone malt weiter an ihren wuchernden Bildern, die den Betrachter durch ihre üppige Ornamentik, die überbordenden Details, Blümchen, Sternchen, Kringel und Kreise, die Verschränkung verschiedener Darstellungsebenen sofort gefangen nehmen. Als große Erzählerin bedient sie sich in ihren Gemälden gleichermaßen des Wortes. Immer neue Texteinschübe, Kleinigkeiten sind zu entdecken, überwölbt vom großen Gefühl. „Aua, aua, scheiden tut weh“, klingt es in ihrem entzückendem Deutsch mit amerikanischem Akzent aus einer weiteren Videobox, mit der sie dem verlassenen Geliebten nachtrauert. Und selbst nach dessen Tod malt sie ihm noch Bilder: „Miss My Muse“.
Da hat ihre Mission der nach vollkommener Vereinigung mit einem Mann strebenden Liebe längst ein anderes Gefäß gefunden: den Buddhismus, der ebenfalls den Moment der ekstatischen Einheit kennt, nur als spirituelle Erfahrung. Die Offenherzigkeit hat sie sich auch in diesen Bildern gewahrt, umwerfend in ihrer ungebrochenen Naivität auch nach all den Jahren. „I stayed because I wanted to reform Germany“ steht auf einem ihrer Bilder geschrieben. Für solche Künstler kann die Stadt nur dankbar sein.
Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124–128, bis 2. 6.; Mi bis Mo 10 –18 Uhr.
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