Berliner Häuser (9): Das große Glück im kleinen Garten
Der Akazienhof 5 in Falkenberg steht in Bruno Tauts erster Berliner Siedlung. Sie ist seine heiterste.
Es gab eine Falkenberg-Hymne. Und die ging so: „Fern vom Getrieb der Räder/Da draußen vor dem Tor/Da ragt aus blauen Äther/Der Falkenberg hervor/Die Falken sind verschwunden/Doch Raben gibt’s noch viel/Und hinterm Berg die Unken/Die quaken mit Gefühl: O Falkenberg, o Falkenberg/Du Wunder der Natur/Der Himalaja ist fürwahr/Von dir ein Schatten nur ...“
Scheint so, als hätten die ersten Bewohner der Falkenberg-Siedlung eine Menge Spaß gehabt, als sie sich zu ihren Straßenfesten versammelten. Sie führten Theaterstücke auf, ein Chor sang und auf den Umzügen wurden zur ironischen Ehrung des Siedlungsarchitekten Bruno Taut die sogenannte Tautfahne gehisst. Darauf sieht man ein Haus, windschief wie die Villa Kunterbunt, daneben einen Baum und drumherrum rote, schwarze, weiße und beige Flecken. Wohl wegen der Farben, mit denen Taut bei der Gestaltung seiner Hausfassaden so großzügig umgegangen ist.
Gleich nachdem die Siedlung bei Grünau 1913 eingeweiht wurde, um Stadtbewohnern die „Flucht aus der Mietskaserne zu ermöglichen“ und ihnen eine „Stadt-Land-Synthese“ mit viel Licht und frischer Luft zu bieten, hatte sie auch schon den Namen „Tuschkastensiedlung“ weg. Weil jedes der kleinen Reihen- und Mehrfamilienhäuser durch eine andere Farbe vom benachbarten abgesetzt ist. Weil Taut Fensterläden, Gesimse, Veranden und Balkonbrüstungen so expressiv gestaltet hat, dass die Häuser, eingebettet in kleine Obstgärten, geradezu wie gemalt wirkten – und es nach liebevoller Rekonstruktion in den Neunzigern heute wieder tun. Selbst bei Regen.
Gut ein Dutzend Wohnanlagen und Siedlungen hat der Städteplaner und Architekt Bruno Taut in Berlin zwischen 1920 und 1933 entworfen, insgesamt mehr als 10 000 Wohnungen. Die Schillerparksiedlung in Wedding etwa. Oder die Hufeisensiedlung in Britz. Oder die Waldsiedlung Onkel Toms Hütte in Zehlendorf, die Taut zu einer Ikone des „Neuen Bauens“ machte.
Doch die intimste und vielleicht heiterste von Tauts Siedlungen ist seine erste. Sie befindet sich im Bezirk Treptow-Köpenick, im Ortsteil Bohnsdorf, und sie besteht nur aus einem guten Dutzend Häusern um einen kleinen Platz mit Bäumen, dem sogenannten „Akazienhof“, und den verspielt vor- und zurückspringenden Reihenhäusern am benachbarten Gartenstadtweg. Alle Häuser sind in Nord-Süd- Ausrichtung angelegt, so dass von Osten und Westen den ganzen Tag über Licht in die Räume fällt. Die Pflanzen und Obstbäume in den kleinen Gärten harmonieren mit den Farben der Fassaden. Taut orientierte sich am Vorbild englischer Gartenstädte. Ursprünglich waren 1500 Wohnungen für 7500 Bewohner geplant, doch weil der Krieg begann, wurden nur 128 Wohnungen verwirklicht. Wahrscheinlich zum Glück der Bewohner. Denn das Intime, das dörflich Überschaubare, passte einerseits zu den Häuschen und andererseits zum offenen, aber auch leicht elitären konspirativen Geist der ersten Bewohner. Handwerker mit „Weltbühnen“- Abonnement, Lokomotivführer, Studienräte, Künstler, Dichter aus dem Friedrichshagener Kreis zogen ein. 135 Familien mit 92 Kindern.
Die Gartenstadt war ein Reformprojekt und fast so etwas wie die erste Townhouse-Gemeinschaft der Stadt. Die Mieter kauften sich in eine Genossenschaft ein und hatten dafür Mitspracherecht bei der Grundrissgestaltung. Taut und der Gartenarchitekt Ludwig Lesser mussten sich ihre Entwürfe auf Versammlungen absegnen lassen. Selbstbestimmung als Spielwiese und Abenteuerspielplatz. Ein Bewohnerausschuss organisierte Einkäufe von Lebensmitteln. Turn- und Schachgruppen entstanden, auch eine Freiwillige Feuerwehr. Es muss eine regelrechte Aufbruchsstimmung gewesen sein, die auch in den Erzählungen von Max Rasokat noch anklingt.
Rasokat sitzt in seiner kleinen Wohnküche im Akazienhof 5, einem Doppelhaus mit für Tauts Verhältnisse regelrecht dezenter, nämlich ockerfarbener Fassade, und sagt: „Zu den Festen kamen bis zu 4000 Besucher. Alle Türen waren damals offen. Einmal ging meine Großmutter hoch ins Bad – da saß eine fremde Dame in der Badewanne. Sie hatte sich kurz frisch machen wollen.“ Max Rasokat, Jahrgang 1945, ist so etwas wie das Gedächtnis und Archiv der Siedlung. Seit 65 Jahren wohnt er auf den gleichen gut 60 Quadratmetern, verteilt auf zwei Geschosse, über denen noch ein niedriger Spitzboden Platz für einen Schreibtisch bietet. Vor ihm hatte schon seine Mutter hier gewohnt, zusammen mit ihren Eltern, die 1913 zu den ersten Mietern gehörten. Um die Ecke, in einem der Häuser am Gartenstadtweg, lebt auch sein Sohn mit Familie. „Nur die Tochter hat gesagt: Hier ist nichts los. Jetzt wohnt sie in Schöneberg.“
Wahrscheinlich die Ausnahme, die die Regel bestätigt, denn gemeinhin gilt: „Aus der Falkenberg-Siedlung zieht niemand weg.“ Die Wohnungen und Miethäuser, verwaltet von der Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 sind heiß begehrt, besonders seit die Siedlung zusammen mit anderen drei Taut-Siedlungen (Hufeisen-Siedlung, Wohnstadt Carl Legien und Siedlung Schillerpark) 2008 zum Weltkulturerbe erklärt wurde.
Sie brachten dem Architekten aber auch viel Häme ein. Die zeitgenössische Architekturkritik verspottete ihn als Architekten des „Kleine-Leute-Glücks“ und hielt seine Entwürfe schlicht für „hausbackenes Zeug“. Ein Hauch von Biedermeier ist auch nicht zu verleugnen. Wie alle klassischen Modernisten mied Taut das Ornament und verachtete die Geste des repräsentativen Pomps. Aber auf starke Außenwirkung, auf Effekt war auch er bedacht. Wie sehr die Siedlung von ihrer Farbigkeit lebt, zeigt Max Rasokat auf deprimierenden Fotos aus der DDR-Zeit. Die Wohnanlage überstand den Krieg unbeschadet, aber der Lack war erst mal ab.
1977 wurde das Ensemble unter Denkmalschutz gestellt, es fand eine erste Instandsetzung statt, aber die Farben waren, wie es in einer Broschüre dezent heißt, nur begrenzt haltbar, blichen schnell aus oder verwischten. Die Wiederherstellung, die dann der Architekt und Taut-Spezialist Winfried Brenne im Auftrag der Wohnungsgenossenschaft Anfang der neunziger Jahre in Angriff nahm, bestand zuerst aus aufwendiger Recherche. Schwarz-Weiß-Fotos halfen schließlich nicht weiter. Also wurde nach Beschreibungen gesucht, an alten Fensterläden geschabt und an Fassaden die Ursprungsschicht hervorpräpariert, um eine „fast vollständige Belegbarkeit der Farbigkeit“ zu erreichen, wie Brenne schreibt. Schwarz mit roten Fensterrahmen oder strahlend Blau oder blau-gelb gemustert wie das Feld eines geheimnisvollen Brettspiels sehen die Fassaden nun aus.
Max Rasokat schaut durch das Doppelkastenfenster auf die Stichstraße, wo eine Robinie steht. Es regnet noch immer. Um die zauberhafte Wirkung der Anlage zu erfassen, muss man sie natürlich erlaufen. Er weist auf den Regenschirm.
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