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Kultur: Das Grau der Erinnerung

Stammheim-Zyklus, Boulevard-Horror: Gerhard Richter in zwei Hamburger Ausstellungen

Seit Sigmar Polkes Tod steht es wohl fest: Gerhard Richter ist der bedeutendste lebende deutsche Maler, gefolgt von Neo Rauch, dem als Fünfzigjährigen jedoch das Seigneurale zum Malerfürsten fehlt. Das Ansehen eines Künstlers lässt sich nicht nur in den Preislisten der Auktionshäuser ablesen, sondern auch an der Zahl der Ausstellungen zum runden Geburtstag. Richter feiert im kommenden Jahr seinen Achtzigsten. Die Neue Nationalgalerie in Berlin, die Tate in London und das Centre Pompidou in Paris werden ihn mit großen Präsentationen ehren.

Die beiden nun eröffneten Hamburger Ausstellungen im Bucerius Forum und der Kunsthalle nehmen sich da wie ein Präludium aus. Und doch sind sie kein Vorgeplänkel, denn für die von Uwe M. Schneede im Bucerius Forum eingerichtete Schau „Bilder einer Epoche“ wurde Richters legendärer RAF-Zyklus von 1988 leihweise vom Museum of Modern Art in New York zurückgeholt.

Allein diese bewegenden, ein Jahrzehnt nach den Selbstmorden von Stammheim entstandenen Werke wiederzusehen, lohnt den Besuch der Hamburger Ausstellung. Die in verwischte Schwarz-Weiß-Malerei übertragenen Polizei- und Pressefotos von Ensslin, Baader und Meinhof, von den Stuttgarter Zellen, der Beerdigung und dem Plattenspieler, in dem die Pistole für den Suizid versteckt war, sind wie ein Requiem – nicht für die Terroristen, wie Richter nach Vollendung seines Werks sogleich vorgeworfen wurde, sondern für die bleierne Zeit, die sich heute als internationales Phänomen fortsetzt.

Richter gilt zu Recht als Erneuerer des Historienbildes, einer Gattung, die nach dem Niedergang der Nationalstaaten in ihrer Selbstherrlichkeit und dem Ende einer gloriosen Geschichtsschreibung desavouiert erschien. Durch Richters Stammheim-Zyklus wurde ein Nachdenken in der Kunst über politische, ein ganzes Land ergreifende Ereignisse wieder möglich. Die Hamburger Ausstellung ordnet den Bilderzyklus kunsthistorisch und gesellschaftspolitisch noch einmal neu ein, so dass ihr als Aufgalopp zu den kommenden Großausstellungen bleibende Bedeutung beschert sein wird.

Dass Richter eine adäquate Form für die Darstellung des deutschen Herbstes, die Bedrückungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft fand, erklärt sich aus seinem Schaffen in den sechziger Jahren, in denen er schon einmal Bilder malte, die nach öffentlichen Vorlagen, Fotografien in Magazinen und Werbeprospekten entstanden waren. Kurz vor dem Mauerbau hatte sich der Absolvent der Dresdner Akademie mit seiner damaligen Frau nach Düsseldorf abgesetzt und suchte dort neuen Tritt in der Szene zu fassen. Er fand ihn mit dem „Kapitalistischen Realismus“, wie er mit seinen beiden Kompagnons Sigmar Polke und Konrad Lueg diese eigenwilligen Stilvariante nannte: angeregt durch die amerikanische Pop-Art, aufgestachelt durch die Begegnung mit Beuys und Fluxus.

Trotzdem blieb Richter seinen Prägungen, seiner aus dem Osten mitgebrachten Malkultur treu, mochte er auch sein Frühwerk vor der Abreise zerstört haben. Zwar hat er sich mit seiner Heimatstadt wieder ausgesöhnt und wird im Albertinum hoch geehrt, doch will der 79-Jährige seine Wandmalerei im Dresdner Hygienemuseum, sein Gesellenstück als damaliger Meisterschüler, bis heute nicht wieder freilegen lassen. Die Ausstellung im Bucerius Forum zeigt also Richters künstlerische Stunde Null im Westen. Sie eröffnet mit dem kleinen, delikat gemalten Bild einer gewöhnlichen Toilettenrolle – eine Antwort auf Marcel Duchamps „Fontaine“, ein Readymade in Form eines Urinals. Das von dem Franzosen erklärte Ende der Malerei war für Richter längst nicht gekommen.

Als könnte mit dem Banalen die Rettung einer ganzen Gattung gelingen, malt Richter nun mit Vorliebe das Gewöhnliche: einen Küchenstuhl, einen Kronleuchter, eine vorüberhuschende Sekretärin, das Alsterpanorama, eine Familie im Schnee, eine Frau mit Kind am Strand. Stets sind sie entsprechend den Vorlagen aus Magazinen oder Familienalben in Schwarz-Weiß gemalt, mal mit Text am Rand, mal ohne. Stets sind die Konturen verwischt, was aus heutiger Sicht das Gefühl einer fernen Erinnerung noch verstärkt und den Eindruck erweckt, dass hier etwas nicht stimmt, die Harmlosigkeit nicht echt sein kann. Fast wirken sie wie verwackelte Dokumentarfilmaufnahmen. Bei „Onkel Rudi“ (1965) offenbart es sich das Abgründige in der Uniform. Der lachende Mann im langen Wehrmachtsmantel vor der trostlosen Mauer war ein Onkel des Malers, heiß geliebt von ihm als Kind, doch dann fiel er im Krieg.

Uwe M. Schneede bestätigt nun den Verdacht, dass sich auch hinter den anderen Bildern keine guten Geschichten verbergen, er legt die Quellen offen. In Vitrinen liegen die entsprechenden Seiten von „Stern“ oder „Quick“ aufgeschlagen, in denen das Drama vollständig abgedruckt steht. Für die harmlose Sekretärin ermordete ein amerikanischer Anwalt seine Frau, der Tote unter dem Eisblock gehört zu einer ganzen Mannschaft, die im Meer unterging, der sympathisch lächelnde „Prinz Sturdza“ ist ein Heiratsschwindler und eiskalter Killer, „Frau Marlow“ erlag einer mit E 605 vergifteten Praline.

Mit der gleichen scheinbaren Arglosigkeit und Willkür in der Auswahl malte Richter auch Motive der Werbung: ferne Urlaubsziele, junge Leute im Motorboot, schnelle Flitzer. Das ganze Panorama des Wirtschaftswunders. Da kam es nicht gut an, dass dieser aus der Zeit gefallene Maler auch noch Düsenjets im Anflug porträtierte. Der gleiche Gestus, das gleiche Prinzip greift Richter mit einem Jahrzehnt Abstand wieder beim Stammheim-Zyklus auf. Auch hier scheint er willkürlich die Motive auszuwählen und trifft doch mitten ins Herz eines ganzen Landes, das sein Trauma immer noch nicht verarbeitet hat.

Richter ist zwar nicht der Erfinder der verwischten, verschleierten Malerei, doch hat er sie zu einer eigenen Klasse gemacht, so dass für nachfolgende Generationen kein Weg an ihm vorbeiführt. Die Methode hat noch immer Bestand, denn auf die Bilderflut der Massenmedien reagiert die Kunst mehr denn je mit Entschleunigung, der Einmaligkeit des einzelnen Werks, vor allem mit der Subjektivierung des Blicks. „Unscharf. Nach Gerhard Richter“ nennt deshalb die Hamburger Kunsthalle ihre parallel laufende Ausstellung, in der Werke von 23 Künstlern und zahlreiche Richter-Bilder aus eigenem Bestand gezeigt werden.

Es ist ein locker gestreuter Essay im Gegensatz zur kunsthistorischen Tiefenbohrung im Bucerius-Forum, wie Kunsthallendirektor Hubertus Gassner eingesteht. Die Zahl der Teilnehmer hätte sich beliebig erweitern lassen; auch hier verschwimmen die Ränder. Dass es die Tiefenschärfe ohnehin nicht mehr gibt, verraten die Bilder von Marc Lüders erst auf den zweiten Blick. Er übermalte die Gefolterten auf Abu-Ghraib-Bildern aus dem Netz, so dass sie im Hintergrund verschwinden. Die Wahrheit, oder was man dafür hält, bleibt jedoch in der Welt.

Bucerius Kunst Forum , bis 15. Mai; Katalog (Hirmer) 24,80 €. Kunsthalle, bis 22. Mai; Katalog (Hatje Canto) 29 €.

Nicola Kuhn

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