Nobelpreis für Mario Vargas Llosa: Das Gesicht eines Gewinners
Staatsmann und Caballero: Der Peruaner Mario Vargas Llosa erhält den Literaturnobelpreis. Es ist eine Überraschung - nicht nur für den 74-jährigen.
Es ist eine Überraschung, eine deftige sogar. Erstens, weil die Buchmacher, die in den vergangenen Jahren offenbar dank gewisser Undichtigkeiten im Nobelpreiskomitee recht treffsicher gewesen waren, diesmal mit ihrer Kandidatenliste von Cormac McCarthy bis Haruki Murakami erfrischend daneben lagen. Und zweitens, weil sich, während die Feuilletonisten der Nation gestern dem Countdown der Bekanntgabe entgegenfieberten, die Mitarbeiter von Mario Vargas Llosas deutschem Verlag, sofern man den Nachrichtenagenturen glauben darf, ganz entspannt in die Mittagspause begeben hatten. Also: Wenn nicht mal Suhrkamp was ahnt, wer dann?
Andererseits kommt dieser erste Literaturnobelpreis seit 20 Jahren für einen Lateinamerikaner – damals wurde der Mexikaner Octavio Paz geehrt – keineswegs überraschend. Der 74-jährige Peruaner Mario Vargas Llosa gehört zu den wirkungsmächtigen Autoren des sogenannten Booms der spanischsprachigen Literatur des Kontinents, lange Zeit in einem Atemzug genannt mit Gabriel García Márquez, der seinen Nobelpreis bereits 1982 bekam. Eine überfällige Ehrung – schließlich liegt diese einst den gesamten Globus inspirierende literarische Produktivität, zu deren herausragenden Namen neben García Márquez auch Julio Cortázar, Alejo Carpentier und Carlos Fuentes zählen, schon Jahrzehnte zurück. Zudem zeichnet, auch dies lässt die Entscheidung für Vargas Llosa schlüssig erscheinen, das ohnehin für engagiert welthaltige Interventionen empfängliche Nobelpreiskomitee einen Autor aus, dessen politische Biografie ebenso bemerkenswert ist wie die literarische.
Mario Vargas Llosa gehört bis heute zu den Gern- und Vielgelesenen, ja, zu den Lieblingen des Weltliteraturbetriebs. Seine Feder, und das ist vielleicht das erste Bild, das sich bei der Nennung seines Namens aufdrängt, ist so fein wie sein Äußeres. Mario Vargas Llosa gilt als strahlende Erscheinung, als schöner Mann mit geschliffenen Manieren, ein Weltbürger des Schreibens mit Wohnsitzen in London, Paris, Madrid und inzwischen wieder in seinem zwischenzeitlich so fernen Geburtsland Peru. Dieser Obervorzeigbare, 1936 in Arequipa in eine großbürgerliche Familie hineingeboren, hat ein Gewinnergesicht, eine Statur für jedes Festparkett und Festbankett, dessen – höchst liberale – Meinungen zu Gott und der Welt zudem nach wie vor gefragt sind. Ja, mit so einem Gentleman, so einem Caballero kann auch die Literatur Staat machen. Dass sich mit den Jahren eine gewisse Glätte und gar eine zarte Parfümiertheit in das Markenzeichen Vargas Llosa gemischt haben: Wer ihm das verübeln wollte an so einem Tag, der muss schon ein rechter Spielverderber sein.
Da tut es gut, dass die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften klar zu erkennen gibt, wofür vor allem sie diesen Vielgesichtigen auszeichnet, für seine „Kartographie der Machtstrukturen und seine scharfen Bilder des Widerstands, der Revolte und der Niederlage des Einzelnen“. Kein Zweifel, sie zielt damit unmittelbar, auch wenn der Nobelpreis nie ein Einzelwerk oder eine herausragende Schaffensperiode auszeichnet, auf den frühen Vargas Llosa, den literarischen und politischen Rebellen, den Kämpfer und Moralisten an der Schreibmaschine. Sie zielt auf den jungen Kommunisten, der sich gegen die Diktatur des peruanischen Generals Manuel Odría auflehnte und sich bald im europäischen Exil der sechziger Jahre in die erste Garde der lateinamerikanischen Autoren schrieb – mit den frühen Romanen „Die Stadt und die Hunde“ (1962), „Das grüne Haus“ (1967) und „Gespräch in der Kathedrale“ (1969).
Hatte er in seinem Erstling noch die Hölle militärischen Drills in einer Kadettenanstalt gezeichnet, eine Kubricksche „Full Metal Jacket“-Paranoia auf Peruanisch, so geriet ihm sein bedeutendster Roman „Das grüne Haus“, für den er bereits mit 31 Jahren den Premio Rómulo Gallegos erhielt, den wichtigsten Literaturpreis Lateinamerikas, zu einer gewaltigen zeithistorischen Anklageschrift, zur fundamentalen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Perus und zum Blick auf deren noch immer nachblutende Wunden. Das titelgebende grüne Haus ist ein Bordell im Norden des Landes, in dem von Nonnen zwecks Christianisierung eingefangene Indiomädchen als Prostituierte enden; die gesamte Welt dieses Buchs ist ein von Alptraum zu Alptraum treibender Wörterstrom aus Ausbeutung, Zynismus und Gewalt, begangen von Garnisonssoldaten, Kautschukhändlern und marodierenden Banden. „Gespräch in der Kathedrale“ schließlich markiert den auch literarischen Bruch mit jenem diktatorisch regierten Peru, dem Vargas Llosa mit Anfang 20 den Rücken gekehrt hatte: Der Roman ist ein einziger Aufschrei gegen staatlich sanktionierten Sadismus und Korruption.
Die Wurzeln dieser literarischen und politischen Revolte, veredelt durch die Erfahrung mit europäischen Demokratien, führten im Leben Vargas Llosas später zu einer größer kaum denkbaren Oberflächenaufregung – oder wie sonst wäre der Ehrgeiz eines ausgewiesenen Schriftstellers einzuordnen, der unbedingt einen Staat führen will? Vargas Llosas Präsidentschaftskandidatur 1989 in Peru markiert zudem den plakativen Wendepunkt einer bewegten Biografie, zu deuten vor allem als Versöhnungsversuch des nunmehr überzeugten Marktwirtschaftlers mit der eigenen Heimat. Doch seine Hoffnung, das vom Bürgerkrieg zerrüttete Land mit demokratischen Mitteln zu befrieden, zerstob. Er verlor knapp gegen den japanischstämmigen Alberto Fujimori, der bald eine eigene TodesschwadronenDiktatur errichten sollte – und zog sich nur wenige Jahre später, bedroht vom Verlust der peruanischen Staatsbürgerschaft, unter das gastfreundliche Dach Spaniens zurück.
Die politische Niederlage war im Ergebnis total, und sie veränderte, was schwerer wiegt, auch unwiderruflich das Werk. Waren früher die auch erotisch saftigen Passagen seiner Romane Nebenbestandteil einer überständig erhitzten und von böser sexueller Allmacht geprägten Welt, widmete sich Vargas Llosa nun mehr und mehr kalligrafisch ausgemalten Liebes- und Passionsverhältnissen, auch wenn da und dort auch noch ein leibhaftiger Diktator sein Unwesen treiben mochte – wie der dominikanische General Trujillo in „Das Fest des Ziegenbocks“ (2000). Seine Leser- und Leserinnengemeinde verübelt es ihm bis heute nicht, im Gegenteil. Die Entpolitisierung der Stoffe ließ den furiosen, wenn auch immer leichtgewichtigeren Fabulierer nur umso stärker hervortreten.
Spätestens mit „Tante Julia und der Kunstschreiber“ (1985) hat dieser – zumindest für Vargas Llosas Primärliteratur prägende – Rückzug ins Private begonnen. In dem höchst elegant und heiter erzählten Roman verarbeitet Vargas Llosa, der als Neunzehnjähriger eine 14 Jahre ältere Verwandte geehelicht hatte (in zweiter Ehe heiratete er eine Kusine), seine amourösen und beruflichen Anfänge. Und in „Lob der Stiefmutter“ (1989) treibt er die stets formvollendet als éducation sentimentale getarnte éducation érotique auf die Spitze – wobei seine „gepfefferten Verdorbenheiten“ nie grob im sprachgymnastischen Rapportieren sexualakrobatischer Höchstleistungen gipfeln, sondern stets ehenachttischtauglich bleiben.
Von dieser Tendenz zum Allzuleichten, mitunter Seichten hat sich das Werk Vargas Llosas nicht wieder erholt, auch wenn eher mechanistisch erzählte Romane wie „Das böse Mädchen“ (2005) als Ausreißer der Altherren-Erotik gelten dürften. Aber was macht das schon? Der Nobelpreis für Mario Vargas Llosa verführt dazu, ein äußerst lesbares und umfängliches Werk wieder zu entdecken: vom Gefälligen der späten Jahre über die entspannten Meisterleistungen der mittleren zurück zur grimmigen Größe, mit der Vargas Llosa einst begonnen hat.
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