Watchmen: Das geniale Dutzend
In zwölf Kapiteln schufen Alan Moore und Dave Gibbons 1986 ein Meisterwerk der Comic-Literatur. Anlässlich der diese Woche startenden Kinofassung begründen vier "Watchmen"-Fans aus der Tagesspiegel-Redaktion in zwölf Absätzen, wieso das Buch zu Recht ein Klassiker ist.
- Moritz Honert
- Jan Oberlaender
- Lars von Törne
Geschichtsstunde mit Superhelden
Unschuldig und naiv, das Herz am rechten Fleck und stets auf die Fäuste vertrauend – Mothman, der erste Nite Owl oder Hooded Justice – die erste Superheldengeneration in „Watchmen“ entspricht den Kostümträgern aus der Anfangszeit des gesamten Genres. Die nächste Generation ist brutaler, dunkler, mächtiger. Die Entwicklung der Superheldengemeinschaft in diesem Buch entspricht der, die sie in den Comic-Heften der großen Verlage, wie Marvel oder DC genommen haben. „Watchmen“ ist ein abgeschlossenes Biotop des Genres, das eine exakte Typologie vornimmt. Erstaunlich scharf beobachtet.
Schluss mit der Omnipotenz
Nur wer etwas kennt, kann es nehmen und daraus etwas Neues machen. Alan Moore erweist sich als ausgezeichneter Kenner der Superhelden und das Neue, das er erschafft, zeigt uns das Alte wie in einem Zerrspiegel. Da ist nichts Heroisches in den Helden, da ist nichts Bewundernswertes in ihrem Auftreten. Sie sind keine Superhelden, sie sind Abenteurer, die ihre Kostüme anziehen, um einer verqueren Ansicht von Gerechtigkeit Genüge zu tun (Rorschach), sich in einer verlorenen Welt wenigstens bis zum letzten amüsieren zu können (Comedian) oder sexuell überhaupt leistungsfähig zu sein (Nite Owl). Weil das Einprügeln auf Schurken am Ende des Tages nicht die Welt ändert, werden die Allmachtfantasien des Genres ad absurdum geführt. Selbst die beiden wirklich mächtigen Figuren, Dr. Manhattan und Ozymandias, geben am Ende die Frage nach der Richtigkeit ihres Tuns an den Leser weiter. Sie wissen es nicht.
Schicht für Schicht
Es braucht seine Zeit, die Geschichte freizulegen. Schicht hat sich um Schicht gelegt und ist eins geworden. Das Wiederkehren von Situationen, das Überlappen von Erzählsträngen, das Springen zwischen verschiedenen Ebenen von Zeit und Raum. Das alles geschieht beiläufig und folgt doch einem Plan. „Watchmen“ ist ein erzählerisches Meisterwerk. Wohl nirgendwo zeigt Moore das so deutlich wie in Kapitel 8 („Alte Geister“). Piratengeschichte, Halloween-Vorbereitungen, Gefängnisausbruch, Redaktionsarbeit, alles geschieht gleichzeitig. Die Ereignisse überschlagen sich, der Leser wird gezwungen, indem er von Panel zu Panel springt, Zeit und Raum mehrfach zu überwinden. Hierin zeigen sich die Möglichkeiten, die der Comic als Medium hat.
Der Comic mit Sekundärliteratur
12 Hefte à 28 Seiten, gefüllt mit Bildern und Sprechblasen. Viel zum Angucken und Lesen. Eine besondere Tiefe erhält die Geschichte aber gerade über die an jedes Kapitel anschließenden Fließtexte: Krankenhausberichte, Biografien, Korrespondenz, Interviews, die die Geschehnisse deuten, einordnen und kommentieren. Eine Technik, die Moore auch in späteren Werken immer wieder erfolgreich benutzt und in seinem „Black Dossier“ sogar zum Programm erhoben hat.
Ich hasse Dich!
Mit Superkräften scheint man die Welt vor Bösewichten retten zu können, aber nicht seine Beziehung. Unvergessen die Szene in Heft drei, in denen Dr. Manhattan sich dupliziert, in der Hoffnung, seiner Freundin so im Bett eine Freude zu machen. Die reagiert aber nicht wie erhofft, sondern stürmt irritiert und verletzt aus dem Schlafzimmer – nur um festzustellen, dass ihr Freund sich sogar verdreifacht hat, um neben den quasi-ehelichen auch noch den beruflichen Pflichten nachkommen zu können. „Laurie, try to understand“, stottert der blaue Riese. Aber Laurie will nicht. „I hate you!“ Dann fliegt eine Kaffeetasse durch Dr. Manhattans durchlässigen Körper.
It’s a bad bad world
Die Welt ist schlecht, und es kommt immer schlimmer als erwartet. Das weiß jeder, der schon mal Nachrichten gesehen hat. Viele Werke der Fiktion aber wehren sich gegen soviel Ehrlichkeit. Irgendwo muss immer ein Funke Hoffnung an das Gute im Menschen glimmen. Nicht hier. Hier wird Selbstjustiz verübt, vergewaltigt, betrogen und der Tod von Tausenden wissentlich in Kauf genommen. Ohne Rücksicht. Identifikationsfiguren? Fehlanzeige. Das ist so schlimm wie realistisch.
Fragiles Gleichgewicht
Optisch ist „Watchmen“ eine perfekte Übung in Balance. Die Striche innerhalb der einzelnen Zeichnungen, die Aufteilung der Panels, die Struktur der Seiten und das Verhältnis aller Elemente zueinander – alles in feiner Balance, teilweise bis in den letzten Strich so synchronisiert und aufeinander abgestimmt wie der Glastempel, den der übermenschliche Weltenbummler Dr. Manhattan sich zwischendrin auf dem Mars erbaut, als er der Menschen überdrüssig ist. Der Inhalt von „Watchmen“ ist jedoch das absolute Gegenteil von Balance: Eine Welt am Rande des Untergangs; angeschlagene, müde oder zynische Hauptfiguren, deren Leben langsam außer Kontrolle geraten oder mit einem Schlag gewalttätig enden; Paranoia und Panik um jede Ecke. Von Gleichgewicht keine Spur. Ein betörend schöner und zugleich verstörender Kontrast zwischen Form und Inhalt.
An der Kreuzung
Kurz vor Schluss, wenn ein großer weißer Blitz die Stadt trifft und kilometerweit alles Leben auslöscht, sind sie noch einmal in fassungslosem Schock vereint: Der Zeitungshändler, der Tagträumer mit dem Piratencomic, der Gefängnispsychologe und seine Frau, das ständig streitende lesbische Pärchen, die Halbstarken. Sie alle stehen an jener Kreuzung, an der sie auf diesen 400 Seiten unzählige Male vorbeigekommen sind und den Leser an den alltäglichen Sorgen, Ängsten und Dramen teilhaben ließen, die sie beschäftigten. Während um sie herum Superhelden und maskierte Rächer mit der Rettung der Welt oder dem Untergang der Menschheit beschäftigt waren, wurde an dieser Kreuzung immer wieder über das diskutiert und gestritten, was die Menschen ohne Superkräfte sonst noch so bewegt: Der Einmarsch der Russen in Afghanistan, Beziehungen, der Sinn des Lebens. Eine kräftige Dosis Realität in einer von zunehmend surrealen Kräften beherrschten Welt.
Klang der Stille
In Comics wird, wie im echten Leben, oft zu viel geredet. In „Watchmen“ kommen einige der schönsten Szenen ohne ein Wort aus. Es gibt mörderische Zweikämpfe über mehrere Seiten, ohne dass ein Laut zu lesen wäre. Der Besuch des durch einen Unfall zum Übermenschen mutierten Dr. Manhattan auf dem Mars wird durch traumhafte Bilder vermittelt, auf denen die einzigen Worte einen inneren Monolog der Figur wiedergeben. Und als Rorschach, der psychopatische, armselige und beim Leser doch auch Sympathie provozierende, maßlose Kämpfer für Gerechtigkeit einen alten Gegner heimsucht, sind die spannendsten Szene die Schritte und Kameraschwenks und ängstlichen Blicke von Rorschachs Opfer, lange bevor das erste Wort gesprochen wird.
Spiegelungen
„Watchmen“ ist ein Klassiker und ein bewundernswürdiges Meisterwerk, weil in den zwölf Heften von Anfang bis Ende alles mit allem zusammenhängt. Die Konstruktion ist – auf mehreren Text- und Bildebenen, in der literarischen und zeichnerischen Sprache – so engmaschig, die Ausführung so leichthändig und prägnant, dass Alan Moore bereits 1987, dem Erscheinungsjahr der ersten gesammelten Ausgabe, allen Grund dazu gehabt hätte, darauf stolz zu sein, etwas geschaffen zu haben, „das die Bezeichnung ‚graphic novel’ verdient“ - wie er über sein Jahre später erschienenes Jack-the-Ripper-Comic „From Hell“ sagte. (Mehr dazu hier). Die Links und Spiegelungen, Symbole und Zitate ziehen sich durch die gesamte Serie. Die auffälligsten Beispiele:
Blut/Ketchup
Der blutbefleckte Smiley steht nicht nur für den ermordeten Comedian, sondern symbolisiert auch die verlorene Unschuld der Comic-Kultur. Für die übrig gebliebenen Vigilanten ist der Spaß vorbei. Hier kämpfen nicht mehr strahlende DC-Supermänner gegen üble Schurken, hier kämpfen Verzweifelte gegen das Ende der Welt. Alan Moores Helden sind kaputte Typen – haben darum aber eine rauere, größere Oberfläche. Der Comedian ist ein grinsender, maskierter Zyniker – und gleichzeitig einer, da staunt man am Ende, der geliebt wird. Adrian Veidts alias Ozymandias' monströser, grausam rationaler Weltrettungs-Streich wäre ihm nie eingefallen. Der Smiley erinnert denn auch an die Uhr, deren Zeiger in jedem Kapitel weiter der Zwölf entgegenrücken. Bis – in Kapitel zwölf – Veidts Plan aufgeht. Und die Uhr stehen bleibt. Eine gelbe Uhr, über die Blut läuft. Das Blut tausender New Yorker, vergossen etwa vor einem Kino, in dessen Namen „Utopia“ das „t“ fehlt. Der vermeintliche Alien-Angriff soll die Erdbewohner, die streitenden Staaten, die konkurrierenden Systeme vereinen, vereint sie auch. Für den Moment. Nur ist die Geschichte damit noch lange nicht zu Ende. Denn Rorschachs Tagebuch, mit dem auch das gesamte Buch beginnt, könnte alles auffliegen lassen. „City is afraid of me. Have seen its true face.“ Wenn das ans Licht kommt. Das Journal liegt auf einem Haufen unverlangt eingesandter Manuskripte bei Rorschachs Stammblatt, der Trash-Gazette „New Frontiersman“. Der Hilfsredakteur mit Smiley-Shirt kleckert sich Ketchup auf den Bauch und streckt die Hand nach dem Papierstapel aus. Es ist Punkt Zwölf. Er wird keine Scherzgeschichte greifen.
Piraten
Im Internet hat ein „Watchmen“-Freak die Piratengeschichte transkribiert, die als eigene Erzählebene mit der Antiheldengeschichte verschaltet ist. Bernard, der schwarze Junge am Zeitschriftenstand, liest in den „Tales of the Black Freighter“, einem Piratencomic. Dieses Genre hat in der alternativen Realität von Moores 1980er Jahren den verpönten Superheldenkult abgelöst. Nicht, dass die Piratengeschichte ihrem jugendlichen Leser viel Identifikationsfläche bieten würde. Unterhaltsam ist sie jedoch. Weil sie gruselig ist. Und weil sie - auf einer anderen Ebene - die Moral von „Watchmen“ enthält. Nach dem Angriff eines Geisterschiffs rettet sich ein gestrandeter Seemann von seiner einsamen Insel, indem er sich ein Floß aus den Leichen seiner Kameraden baut. Auf der Fahrt in Richtung Frau und Kind wird er langsam irre, bildet sich ein, die Zombiepiraten hätten seine Heimatstadt besetzt. Am Strand angekommen, ermordet er zwei Spaziergänger, reitet auf ihren Pferden in die Stadt, schleicht sich in sein Haus und tötet seine Frau. Er erwacht aus seinem Wahn und flieht, voller Horror über sich selbst. Der schwarze Frachter erwartet ihn. „Noble intentions had led me to atrocity“ – edle Motive führten mich zur Gräueltat. Dies muss der verirrte, verdammte Matrose am Ende von „Black Freighter“ erkennen. Eine Einschätzung wiederum, die sich auch auf Adrian Veidts mörderischen Friedensplan beziehen lässt, auf seinen Verlust von Perspektive, seine Zweckrationalität, seine Hybris. Die Dinge sind nun mal nicht klar, nicht linear. Die Dinge hängen zusammen. Eine zeitlose Botschaft. Eine, die umso eindringlicher zeigt, dass „Watchmen“ kein Comic über Superhelden, sondern eines über Menschen ist.
Hinweis: Unsere Watchmen-Verlosung ist beendet, die Gewinner werden per Post benachrichtigt.
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