Boulevard-Hit am Berliner Ensemble: Das Finidori-Finale
Komödie ist schwer: Andrea Breth inszeniert Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ mit Starbesetzung
Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt hatte einst befunden, dass einer Welt, in der es die Atombombe gebe, im Theater nur noch die Komödie beikomme. Absurdität gegen Apokalypse. Und ihre eigene Sprengkraft erreiche die Komödie erst, wenn eine Geschichte die „schlimmstmögliche Wendung“ genommen habe. Das notierte Dürrenmatt anlässlich seines Stücks „Die Physiker“, in dem die Naturwissenschaft im Irrenhaus spielt.
Vier Jahrzehnte später wählt Yasmina Reza, die erfolgreichste Komödienautorin der Welt, den umgekehrten Weg. Ihr im Herbst 2000 im Wiener Akademietheater auf Deutsch uraufgeführtes Stück „Drei Mal Leben“ („Trois versions de la vie“), das zwei Paare und dabei mit den beiden Ehemännern auch zwei Physiker im Karriere- und Beziehungskrieg aufeinandertreffen lässt, setzt die schlimmstmögliche Wendung gleich an den Anfang. Danach kann alles nur noch besser werden – als Gegenpointe einer schwarzen Komödie.
Auf den Keks gegangen
Bei James Bond hieß es, du lebst nur zwei Mal. In Tom Tykwers Film „Lola rennt“, der vor Rezas Stück herauskam, waren es drei Versionen der gleichen Begebenheit, und mit diesem Traum, im Leben rückwirkend noch eine weitere Chance zu haben, jongliert auch das Theatertriptychon, das die frühere Schaubühnenchefin Andrea Breth jetzt im Berliner Ensemble neu inszeniert hat. Mit viel Premierenprominenz, die französische Autorin sitzt im Parkett und auch Peter Simonischek, 1994 einer der drei Protagonisten aus der legendären Schaubühnenaufführung von Rezas erstem Welterfolg „Kunst“, ist da.
Wir sind bei Henri, dem Astrophysiker, und seiner als Juristin und Managerin erfolgreicheren Frau Sonja. Beide möchten etwas lesen, Akten oder Formeln, aus dem Hintergrund kommt Henri, unterbricht Sonjas Lektüre auf dem Sofa: „Er will einen Keks.“
Schon dieser erste Satz ist hier ein Lacher. Allein mit einem Satz kann Yasmina Reza, die kürzlich 60 geworden ist, sofort eine Situation schaffen: Genervtes Elternpaar nach einem langen Tag, das Kind (in der Kulisse) schläft nicht, verlangt immer neue Nahrung. Sonja ist gegen Süßigkeiten nach dem Zähneputzen. Auch gegen den Apfelschnitz, den Henri ersatzweise anbieten will: „Was ändert ein kleiner Apfel am großen Lauf der Welt?“ Auch dieser Satz ist von subtiler Komik, denkt man nur an das bekannte Ende des Paradieses.
Mit solchen Doppelbödigkeiten, bei denen das Banale bedeutsam und das Bedeutsame auch banal werden kann, müssen die Akteure von Reza-Komödien spielen – wie Musiker, die selbst die Zwischenräume der Noten zum Klingen bringen.
Gib mir den Rest!
In Berlin geht dazu ein illustres Quartett an den Start. Erst geraten Constanze Becker und Nico Holonics als Sonja und Henri in den immer genervteren Ehe-Eltern-Clinch, dann klingelt es zu vorgerückter Stunde und die erst am nächsten Abend zum Dinner erwarteten Finidoris stehen vor der Tür. Der Astrophysiker-Kollege Hubert Finidori ist an einem Forschungsinstitut Henris Vorgesetzter und soll bei einer Beförderung für Henri ein erhofftes Wort einlegen.
Seine elegante Frau Ines, die er ostentativ als blondes Dummchen vorführt, kämpft zunächst mit einer ihr peinlichen Laufmasche, die Gastgeber wider Willen kämpfen mit dem unverhofften Besuch, ihrer mangelnden Garderobe und dem leeren Kühlschrank (eine Datumsverwechslung, zu essen gibt’s im Wettstreit mit dem noch immer quengelnden Kind nur Tütenfutter). Und während sich Ines, gespielt von Judith Engel, wechselweise für sich oder ihren Mann schämt und am Burgunder als Frustalkoholikerin betrinkt, ist Hubert in Gestalt von August Diehl in Anzug und Weste ein stoischer Kotzbrocken.
Mampft Kekse und „Schokofingers“, macht Sonja als routiniert aggressiver Macho an – heute ein Fall von MeToo – und wie nebenbei lässt er gegenüber Henri durchblicken, dass er vor einigen Stunden im Internet zufällig den Hinweis auf eine neue astrophysikalischen Studie entdeckt habe. Henri ist seit drei Jahren keine Veröffentlichung mehr gelungen, doch nächste Woche soll endlich seine Arbeit „On the flatness of galactic halos“ zur Erkundung des Umfelds von Milchstraßen erscheinen. Huberts Hinweis wirkt da wie ein Schock, weil dieser maliziös erwähnt, dass die erwähnte Studie offenbar dem nämlichen Thema gelte. Ein mexikanischer Kollege habe da wohl schon vorgelegt. Aber halo.
Tiefe schwarze Löcher
So schaut Henri im ersten Mal Leben als Wissenschaftler, Vater und Ehemann in schwarze Löcher. Und Ines, vom Gatten gedemütigt und geschlagen, meint zu Hubert beim Weggehen: „Gib mir im Audi den Rest.“ Doch indem der abendliche Finidori-Besuch mit ein paar wechselnden Nuancen noch in zwei weiteren Versionen durchgespielt wird, verschieben sich die Akzente. Aus Losern werden am Ende fast Sieger, und umgekehrt.
Die empfindlichen (Un-)Gleichgewichte dieser Zimmerschlacht aber kann Andrea Breths Inszenierung nicht halten. Anders als bei der triumphalen Uraufführung in Luc Bondys Regie – mit Susanne Lothar, Ulrich Mühe, Andrea Clausen und Sven-Eric Bechtolf –, von der ältere Zuschauer auch in Berlin mindestens noch wegen des Gastspiels 2001 beim Theatertreffen schwärmen, fehlt es an der Gratwanderung. An dem Tanz auf der Schneide von Scherz und Schmerz.
In einem becketthaften Lichtkreis auf sich überlangsam bewegender Drehbühne, vor schwarzen Wänden (Bühne Raimund Orfeo Voigt) und zu bedeutungswabernder Sphärenmusik von Bert Wrede, setzt Andrea Breth mit ihrem hoch besetzten Ensemble auf einen in vielen Nuancen zu schweren, das zu unterspielende Banale bedeutungsvoll zelebrierenden Ton. Die bei Reza anklingende Melancholie wird da zur Grundmelodie. Constanze Becker und die beschwipst virtuose Judith Engel verrutschen dabei ins elegisch Larmoyante, und dem alerten Macho von August Diehl fehlt die auch mal nicht so souveräne Selbstbesoffenheit.
Darin scheitert die hohe Kunst am platteren Leben. Wie ein Halo im Himmel.
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