90. Oscar-Verleihung: Das erschütterte Hollywood zeigt sich optimistisch
“MeToo” und der Erfolg von "Black Panther" haben die Traumfabrik aufgewühlt. Die Revolution bleibt bei der 90. Oscar-Verleihung aus. Doch es gibt starke Reden und positive Signale. Ein Kommentar.
Meryl Streep hat es der Kameraregie diesmal leicht gemacht. Sie sitzt in der ersten Reihe des Dolby Theatre, in einem leuchtend roten Kleid – zwischen all den Würdenträgern der US-Filmbranche in meist monochromen Smokings und Galaroben. Bei jeder Totalen, jedem Kameraschwenk gerät sie ins Blickfeld. Auch auf der Bühne ist Streep, nominiert für ihre Hauptrolle in „Die Verlegerin“, ein ständiger Fixpunkt. Moderator Jimmy Kimmel bezieht sie in seine Stand-up-Routinen ebenso ein wie Jennifer Lawrence und Jodie Foster an Krücken, die den Oscar für die beste Darstellerin überreichen.
Die Omnipräsenz von Meryl Streep besitzt Symbolkraft für die 90. Oscar-Verleihung, die angesichts der Weinstein-Enthüllungen, von MeToo und „Time’s Up“ deutlich dezenter ausfällt als in den Vorjahren. Kimmel weist selbst darauf hin, dass der Goldjunge vermutlich der einzige Mann in der Oscar-Geschichte sei, der sich nie etwas zuschulden kommen ließ. „Er hat seine Hände immer da, wo man sie sieht. Und er hat keinen Penis.“
Die Botschaft von Streeps Signalfarbe an die Filmbranche und die 800 Millionen Fernsehzuschauer weltweit: Wir sind hier angekommen und weichen keinen Schritt zurück. Gleichzeitig zeigt die Aufmerksamkeit für den Topstar, wie sehr sich Hollywood nach einer Integrationsfigur sehnt. Nach einer wie Streep, die mit 21Nennungen den Oscar-Rekord als meistnominierte Schauspielerin hält, sich zugleich mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten anlegt und sich für „MeToo“ und „Time’s Up“ einsetzt.
Wobei die treibenden Kräfte dieser Bewegungen in Hollywood aus einer jüngeren Generation stammen. Der bewegendste Moment der 90. Verleihung ist denn auch der gemeinsame Auftritt von Ashley Judd, Annabella Sciorra und Salma Hayek: Sie gehörten im Oktober zu den ersten Frauen, die den Produzenten Harvey Weinstein öffentlich des sexuellen Missbrauchs und der Vergewaltigung beschuldigten. „Der Wandel, den wir gerade beobachten, wird vorangebracht vom übermächtigen Klang neuer Stimmen, unterschiedlicher Stimmen. Unserer Stimmen“, erklären sie.
Und dann ist da noch Frances McDormand, die erwartungsgemäß als beste Darstellerin für „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ ausgezeichnet wird. Anders als mit ihrer irrlichternden Rede bei den Golden Globes im Januar sorgt sie für einen weiteren integrativen Oscar-Moment, als sie alle weiblichen Nominierten bittet, sich von ihren Sitzen zu erheben. Und da stehen dann tatsächlich mehr Frauen als in den Vorjahren: Greta Gerwig, die für ihr Regiedebüt „Lady Bird“ gleich zweimal nominiert wurde (und leer ausgeht), oder die Kamerafrau Rachel Morrison („Mudbound“), die ebenfalls verliert – allerdings gegen Roger Deakins, der im 14. Anlauf erstmals die Trophäe gewinnt, für „Blade Runner 2049“. Dank McDormand weiß die Welt nun auch, was es mit dem „Inclusion Rider“ auf sich hat, den sie am Ende ihrer Dankesrede erwähnt. Es handelt sich um eine Vertragsklausel, die in Hollywood schon länger gefordert wird. Sie schreibt die kulturelle Diversität bei einer Filmproduktion fest. Ein Begriff, denn man in Zukunft noch öfter hören wird.
Bei so viel gutem Willen drohte dieses Jahr – und es ist qualitativ ein ergiebiges Jahr für Hollywood – der eigentliche Grund für die Jubiläumsfeierlichkeiten ins Hintertreffen zu geraten. Die Preise teilen sich die drei Favoriten, Guillermo del Toros „Shape of Water“, Martin McDonaghs „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ und Christopher Nolans Kriegsfilm „Dunkirk“, einigermaßen paritätisch untereinander auf. Gewinner das Abends ist del Toros 13fach nominierter Monsterliebesfilm, der fürs Produktionsdesign, die Musik, die Regie und als bester Film den Oscar gewinnt.
Der Hauptpreis geht in Ordnung, auf „Shape of Water“ können sich so ziemlich alle einigen, anders als auf das kontroverse Rache- und Gerechtigkeitsdrama „Three Billboards“. Vielleicht aber geht der Oscar für ein Eskapismusmärchen, das bei allen politischen Untertönen (Rassismus, Sexismus, die Paranoia der fünfziger Jahre aus der Perspektive heutiger politischer Instabilität) vor allem wohlige Retro-Gefühle weckt, zu sehr auf Nummer sicher. Man hätte mutigere Entscheidungen treffen können, für Jordan Peeles Horrorsatire „Get Out“ über den latenten Rassismus des liberalen Amerika, Gerwigs phänomenales Regiedebüt „Lady Bird“ oder eben für „Three Billboards“: für Filme, die weit mehr über die aktuellen Befindlichkeiten erzählen.
Peele gewinnt immerhin den Oscar für das beste Originaldrehbuch – was umso kurioser ist, als sich die Hollywoodstudios jahrelang nicht für sein Skript zu einem „schwarzen Horrorfilm“ interessierten. Nach den drei Oscars für „Moonlight“ 2017 knüpft Peele damit an die jüngsten Erfolge des afroamerikanischen Independentkinos an. Das immerhin könnte man als Indiz dafür deuten, dass in Hollywood eine neue Ära anbricht. Endlich.
Vielleicht sind vier Oscars für „Shape of Water“ und seinen mexikanischen Regisseur im gegenwärtigen politischen Klima aber auch die angemessenste Reaktion auf einen US-Präsidenten, der damit droht, eine Mauer zu Mexiko zu errichten und illegale „Dreamer“ zu deportieren, und der die Länder das globalen Südens als „Dreckslöcher“ bezeichnet. Überhaupt ist Mexiko der zweite große Sieger bei der Gala in der Nacht zum Montag: Die Pixar-Produktion „Coco“ über einen kleinen Jungen, der am Día de los Muertos ins Totenreich hinabsteigt, wird als bester Animationsfilm und für den besten Song ausgezeichnet. Alejandro Iñárritu, der andere große Mexikaner in Hollywood, erhielt bereits im November einen Ehrenpreis für sein VR-Installation „Carne y Arena“ über die amerikanisch-mexikanische Grenze.
Jimmy Kimmel erwähnt seinen Lieblingsfeind Donald Trump in dieser Nacht kein einziges Mal. Nach dem Trauma der wegen vertauschter Umschläge verpatzten Zeremonie im Vorjahr – als therapeutische Maßnahme dürfen Warren Beatty und Faye Dunaway erneut den besten Film verkünden – hatten die Produzenten der Gala angekündigt, dass die Jubiläumsfeier diesmal nicht zu politisch ausfallen würde. Was zwar paradox anmutet, schließlich gehört Kimmel zu den bissigsten Polit-Kommentatoren der USA. Aber Hollywood hat neuerdings reichlich mit sich selbst zu tun.
Niemand sollte von den Oscars eine Revolution erwarten. Wichtiger als Solidaritätsbekundungen und symbolische Gesten sind nachhaltige strukturelle Veränderungen – wie in allen gesellschaftlichen Bereichen. Noch immer werden nur elf Prozent aller Filme von Regisseurinnen gedreht, wie Kimmel anmerkt. Dass Greta Gerwig am Ende gegen Guillermo del Toro verloren hat, ist keine Tragödie und auch kein Zeichen dafür, dass alles beim Alten bleibt. Vielleicht ist es, acht Jahre nach dem Regie-Oscar für Kathryn Bigelow, einfach nur das Signal zum Aufbruch.