Kultur: Das eigenbrötlerische Herz
Körpersehnsucht: Nino Haratischwilis Romandebüt „Juja“
In der Pfadfindersprache ist Juja eine Schlupfjacke aus dunkelblauem Wolltuch oder schwarzer Baumwolle, ein robustes Kleidungsstück mit einem auffällig breiten Kragen. In Nino Haratischwilis gleichnamigem Romandebüt meint Juja jedoch ein Wort aus einem georgischen Lied, das einen Menschen bezeichnet, „den zu lieben sich lohnt, von dem geliebt zu werden sich noch mehr lohnt“. Seinen Juja zu treffen, so scheint es, ist nicht leicht, man muss vieles erdulden, um vielleicht irgendwann nicht mehr allein zu sein.
Gewalt, Einsamkeit, Abhängigkeit: Das sind nur einige Schlüsselbegriffe, mit denen sich die junge, 1983 im georgischen Tiflis geborene und gerade mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis ausgezeichnete Autorin auch in ihren Bühnenstücken beschäftigt. Zwei davon, „Georgia“ und „Liv Stein“, letzteres ausgezeichnet mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes, sind soeben in der Theaterbibliothek im Verlag der Autoren erschienen. „Juja“ ist, nach der Prosa „Der Cousin und Bekina“ (Katzengrabenpresse, Berlin 2001) erst Haratischwilis zweite erzählende Arbeit. Man merkt das dem Text an – auch dass Haratischwili vom Theater kommt.
Das Buch besteht aus lauter kurzen Prosaszenen, die Kapitel sind mit den Namen der jeweils handelnden Personen überschrieben. Sie alle haben eines gemeinsam: Ihr Schicksal ist mit dem Buch „Die Eiszeit“ einer gewissen Saré verknüpft. Saré ist eine kahle Sängerin und jugendliche Selbstmörderin im Paris der fünfziger Jahre. Alles Nähere, diese Frau betreffend, verliert sich in Vermutungen und Andeutungen. 14 Frauen sollen nach der Lektüre von „Die Eiszeit“ dem Beispiel seiner Protagonistin gefolgt sein und sich das Leben genommen haben.
Schon der Klappentext nimmt teil am Spiel um Wahrheit und Fiktion, indem er vorgibt, die Handlung des Romans beruhe auf einer „wahren Geschichte“. Doch „wahr“ ist hier nur die Fiktion selbst, denn Haratischwili ließ sich ihrerseits von der Figur der Danielle Sarréra inspirieren, die auch bloss eine Erfindung des französischen Schriftstellers Frédérik Tristan ist.
In ihrem Roman entwirft Haratischwili ein Panorama unterschiedlich getriebener Menschen, die dem Geheimnis jenes Mädchens, „das die Welt vernichten wollte und stattdessen sich selbst umbrachte“, auf die Spur kommen wollen. Doch „die Geschichte selbst erzählt nichts, aber sie gibt dir die Möglichkeit, dich darin wiederzufinden“. Mit anderen Worten: Es geht nicht um Saré, sondern um Haratischwilis eigene Erfindungen, die Laura, Francesca und Patrice heißen und auf der Suche nach ihrem Platz im Leben sind. Eben darin liegt das Problem.
Man muss sich nicht einmal fragen, ob die Idee überzeugen kann, derzufolge ein Text 30 Jahre nach seinem Erscheinen noch dazu führt, dass sich Menschen von den verschiedensten Orten der Welt aus aufmachen, um in Paris die Spur einer verstorbenen Schriftstellerin aufzunehmen. Bei Haratischwili entpuppt sich Saré schließlich als Pseudonym des Schriftstellers Patrice, den wir erst als unpolitischen Eigenbrötler im Paris der 68er und später als zurückgezogenen Science-Fiction-Autor kennenlernen.
Es dauert nicht lange, bis der Mummenschanz um Saré auffliegt und die holländische Kunstwissenschaftlerin Laura und ihr nur „der Freak“ genannter Begleiter den Schriftsteller zur Rede stellen: „Ich empfinde keine Schuld, was diese Frauen angeht, auch wenn es Ihnen unmenschlich erscheinen mag“, antwortet dieser, „ich denke, die Menschen wollten Saré. Ich kann es Ihnen nicht besser erklären, aber Saré hat es immer gegeben, manchmal denke ich, dass sie mich erfunden hat und nicht andersherum.“ Patrice scheint an der Eigendynamik, die sein jahrealter Text plötzlich bekommen hat, schwer zu leiden; er will damit eigentlich nichts mehr zu tun haben. Wozu also der ganze Wirbel um Wirklichkeit und Fiktion, wenn es doch nur um ein paar Leute geht, die ihr ganz persönliches Glück suchen, fragt man sich ständig. Haratischwilis Stärken liegen eindeutig darin, ein Figurengeflecht aus gegenseitiger Verstrickung und Abhängigkeit zu entwerfen, das den Leser fesselt.
Da wird gelitten, sich einsam gefühlt und nackt auf Bettkanten gesessen, was das Zeug hält. Da ist Francesca, deren Mann zuerst den gemeinsamen Sohn erstickt und dann sich selbst erschossen hat und die ihrer Tochter Lynn das Trauma vererbt hat, weniger geliebt zu sein als deren toter Bruder. Lange braucht sie, bis sie Lynn endlich sagen kann, wie sehr sie sie liebt. Da ist Laura, ein „monogames, eigenbrötlerisches Herz“, deren Kind tot zur Welt gekommen ist und die ihren Körper erst wiederentdecken muss. „Juja“ strahlt eine große Sehnsucht aus: nach Körperlichkeit, nach Zusammensein. Und wie die junge Autorin das Leiden des einen am anderen und aller an der Liebe zeigt, ist berührend. Nur wird man das Gefühl nicht los, die Autorin habe ihren Figuren zu viel zugemutet.
Nino Haratischwili, die nach Ausbruch der Unabhängigkeitskriege in Georgien zum ersten Mal als Sechsjährige mit ihrer Mutter nach Deutschland kam und heute in Hamburg lebt, sagte einmal, Tiflis sei für sie Kindheit und Familie, zugleich aber auch ein Zuhause, das umweht ist von einer sentimentalen Aura, „etwas Vergangenes wie Tschechows ,Kirschgarten’“. 2008, als in ihrer Heimat der Krieg mit Russland ausbrach, hat sie in einem berührenden Kriegstagebuch ihre Erfahrungen vor Ort beschrieben – und gerade hat sie in ihrem an der Hamburger Kampnagel-Fabrik uraufgeführten Stück „Radio Universe“ wieder davon erzählt.
In ihrem Roman gibt es eine Figur, die schlicht „Ich“ genannt wird und von der es am Anfang des Buches heißt: „Ich habe beschlossen, dass ich, um die Geschichte besser verstehen zu können, in eine Heimat fahren muss, die ich nicht habe.“ Am Ende der Reise ist dieses „Ich“ endlich erwachsen geworden und denkt an ihren Juja, der ihr Herz zusammenflickte, „nach unzähligen Kriegen“.
Nino Haratischwili: Juja. Roman.
Verbrecher Verlag,
Berlin 2010.
304 Seiten, 24 €.
Volker Sielaff
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