Interview mit Christiane Rösinger: "Das Chaotische und Nervige macht die Stadt aus"
Frau Rösinger, es gibt Hunderte von Liedern, die sich mit Berlin beschäftigen, und es kommen immer neue dazu. Wieso können Musiker nicht von Berlin lassen?
Frau Rösinger, es gibt Hunderte von Liedern, die sich mit Berlin beschäftigen, und es kommen immer neue dazu. Wieso können Musiker nicht von Berlin lassen?
Eine Stadt ist immer ein dankbares Thema für einen Song oder ein Chanson. Ich habe mal diese Definition gelesen: Ein Chanson handelt immer von der Liebe oder von Paris oder von der Liebe zu Paris. Also falls man gerade mal keine Lust hat über die Liebe zu schreiben, kann man ganz gut über eine Stadt schreiben. Es ist auch eine gute Möglichkeit Realismus,
Alltag oder Gesellschaftskritik einzubringen, wobei sich größere Städte natürlich besser eignen. Hauptstädte vor allem. Ich glaube, Paris und New York liegen vorne, dann kommt Berlin und dann lange nichts mehr.
Wie kam es zu Ihrem eigenen Song „Berlin“, den Sie für Ihr Solo-Debüt „Songs of L. and Hate“ geschrieben haben?
Es war das letzte Lied der Platte. Inspiriert hat mich dazu eine Georg-Kreisler-Platte, die ich geschenkt bekommen habe. Er hat ja viele Lieder über Wien geschrieben. Und musikalisch orientiert sich mein Song auch ein bisschen am sogenannten Wiener Lied. Ich wollte, dass es eine Art Sauflied zum Schunkeln und Mitsingen wird, ein Berliner Gassenhauer, den man eher kräht als singt.
Sie singen über Stresser, Poser, Säufer, Verwirrte, Gestank und hinkenden Service. Wurden Sie vor allem von den negativen Seiten der Stadt angeregt?
Das wird oft so verstanden. Aber es ist kein Hasslied. Es werden zwar die nervigen Sachen beschrieben, aber der Grundtenor ist doch: Zum Glück leben wir in Berlin, wo all das nebeneinander existiert. Natürlich nerven die Besoffenen, die vor dem Supermarkt stehen, aber man will doch auch nicht in einer sauberen, herausgeputzten Stadt wohnen, in der das alles nicht mehr vorkommt. Das Chaotische und Nervige ist ja genau das, was eine Stadt ausmacht. Es ist eben keine Idylle. Deshalb sind ja viele – auch ich – aus ihren aufgeräumten Dörfern und Städtchen weggegangen und nach Berlin gekommen.
Kannten Sie Berlin-Lieder, bevor Sie hergezogen sind?
Ich habe mich schon als Jugendliche für deutsche Songs interessiert. Mit 15, 16 entdeckte ich Klaus Hoffmann. Es gab eine sehr düstere Berlin-Platte von ihm, auf der er Sachen sang wie: „Was fang ich an mit dieser Stadt, die mich zur Angst erzogen hat?“ Ein paar Jahre später kam ich zum ersten Mal nach Berlin und es hat eigentlich alles gestimmt, was er gesungen hat. Ich war sofort total begeistert von der Stadt.
Welche Berlin-Songs gefallen Ihnen denn gar nicht?
Die meisten neueren Sachen finde ich nicht so gut. Fast jede Band hat ja inzwischen ein Berlin-Lied. Die ziehen hierher, wohnen zwei Wochen in der Stadt und nennen sich dann Mariannenplatz. Natürlich kann man das niemandem verdenken, jeder ist frei, Lieder zu machen. Aber wenn man schon länger hier lebt, denkt man sich eher selten: Das trifft jetzt den Punkt. Oder dieses Berlin-Bashing von Bands wie Angelika Express aus Köln. Da ist auch viel Neid dabei. Das merke ich auch, wenn ich mein Berlin-Lied außerhalb Berlins singe: Die Leute freuen sich dann immer, weil sie denken, das sei ein Hass-Song.
Und die Berliner, wie haben die den Song verstanden?
Die haben es kapiert. Auf Youtube ist er ja ein kleiner Hit geworden und die Kommentare dort sind sehr positiv. Allerdings wurde er in manchen Online-Diskussionen auch als Song gegen Prenzlauer Berg verstanden, dabei kommt das Wort gar nicht vor und die Ökoeltern, von denen ich singe, gibt es inzwischen ja überall.
Was braucht ein Berlin-Song, um zu einer Hymne zu werden, wie „Dickes B“ von Seeed oder „Berlin“ von Ideal?
Die Musik muss zur Zeit passen. Sie muss modern sein und die Band gerade angesagt. Das war bei diesen beiden Stücken der Fall. Ideal haben zudem dieses Gehetze von damals gut rübergebracht. Und in „Dickes B“ wird das feiernde Berlin zum ersten Mal so richtig gelobt. Es ist eine Hymne auf das Nachtleben.
Viele Lieder besingen Kreuzberg oder Schöneberg. Wieso schreibt nicht mal jemand eine Hommage an Lichtenrade, Steglitz oder Reinickendorf?
Es gibt ja die „Wilmersdorfer Witwen“ aus der „Linie 1“. Und ich hab in meinem Berlin-Stück auch versucht, verschiedene Lebenswelten einzufangen. Also nicht nur die eigene Szene zu sehen, sondern ein breiteres Spektrum einzufangen: die Gangs, die After-Hour-Typen, die Spaziergänger. Aber natürlich findet das letztlich alles in meinem Radius zwischen Treptower Park und Mitte statt. In die Außenbezirke kommt man eher nicht. Und wenn man dort wäre, wüsste man nichts zu sagen, weil es dann auch wieder etwas von Kleinstadtidyll hat.
Nadine Lange