Neue Musik: Das Chaos muss seine Ordnung haben
Avantgardist mit Seele: Zum 100. Geburtstag seines großen Komponisten Witold Lutoslawski ruft Polen gleich ein ganzes Lutoslawski-Jahr aus. Auch in Berlin wird es mit zahlreichen Konzerten begangen
Erstaunlicher als Witold Lutoslawskis Musik selbst ist höchstens sein unbedingter Wille, den Hörer damit zu ergreifen. Kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts hat sich so viele Techniken einer wild vorwärts marschierenden Avantgarde angeeignet und sie zugleich auf eine Weise gezähmt, die ihnen das abstrakte Kalkül nimmt und sie menschlich atmen lässt. Seine Zwölftonexperimente – anders als die von Arnold Schönberg nicht im mindesten daran interessiert, das funktionsharmonische Denken umzustoßen. Und seine „begrenzte Aleatorik“ – weit davon entfernt, sich an John Cages Philosophie des Zufalls anzulehnen.
Auf jede Zerstörungsarbeit, die er sich im Lauf der Jahre zumutete, folgte irgendwann die versöhnende Restitution. So sind auch die Ad-Libitum-Passagen mancher Werke zu verstehen: als Versuch, die Rolle des ausführenden Musikers gegenüber dem Komponisten zu stärken – und als Trick, mikrorhythmische Überlagerungen zu schaffen, die kein Notentext so präzise vorschreiben könnte.
Witold Lutoslawskis Musik mag in ihren Tiefenstrukturen auf Anhieb oft kaum fasslich sein, doch sie ist von den ersten Momenten an wirkmächtig. Das Lyrische ringt in zauberischer Delikatesse mit dem Dramatischen, und die emotionalen Klimazonen wechseln abrupt, während die allgemeine Erhitzung in der Regel zunimmt. Irgendetwas passiert immer: ein graziles Flirren und Flocken im Morphing der Klanggestalten. Eine aktionistische Welle, die vom Schlagzeug ins Blech rollt. Eine sich überraschend erhebende Melodie. Oder ein theatralischer Kampf wie der, der sich in Lutoslawskis berühmtem „Konzert für Cello und Orchester“ (1970) abspielt. Das Orchester bekriegt hier das Soloinstrument mehr und mehr, fährt ihm mit schweren Schlägen dazwischen und zerschmettert seine Kantilenen, bis es nur noch leise wimmert.
Mstislaw Rostropowitsch, für den das Konzert komponiert war, wollte als leidgeprüfter sowjetischer Emigrant darin einst den Antagonismus von Individuum und Kollektiv erkennen. Lutoslawski jedoch erklärte, damit nie etwas anderes als eine „musikalische Situation“ im Blick gehabt zu haben. Womit vielleicht das offen Politische vom Tisch ist, nicht aber die Frage, wie sich Kompositionen, die zu Recht beanspruchen, keinen Programmen zu folgen, in der von ihnen beanspruchten Ausdrucks- und Erschütterungsfähigkeit in Worte fassen lassen.
Was soll man gegen eine metaphernfreudige Musikschriftstellerei sagen, die Lutoslawski mit folgenden Worten charakterisiert? „Stilles, hinüberdämmerndes Träumen, hin und wieder vom inneren Erdbeben unterbrochen – die Melancholie der endlosen Ebenen, das Irren müder Finger auf der großen Himmelsharfe einer lustvollen Wehmut, und plötzlich, wie ein Windstoß, von dem man nicht weiß, woher er kommt, ein jäher Schrei, halb triumphierender Ruf, halb keuchendes Aufstöhnen, um den tief unten verborgenen Schmerz zu ersticken. Tanz, meine Seele, tanz!“
Treffend der Hinweis auf die schroffen Kontraste zwischen Aufbegehren und Ermattung. Problematisch vielleicht das antiquierte Pathos, das man nur dem frühen neoklassizistischen Lutoslawski nachsagen dürfte. Ärgerlich nur, dass der große polnische Naturalist Stanislaw Przybyszewski, auf der Suche nach der so oft beschworenen polnischen Seele, diese Worte 1917, vier Jahre nach Lutoslawskis Geburt in Warschau, seinem Landsmann Frédéric Chopin widmete.
Und doch ist die Fährte nicht ganz falsch. Denn insofern Chopin die Bedeutung Polens als musikalische Weltmacht begründete, Karol Szymanowski sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneuerte und Witold Lutoslawski in der zweiten Hälfte bekräftigte, gibt es unter diesen strahlkräftigen drei eine innere Verwandtschaft, die der Letzte in der Reihe vollendete: Szymanowskis Dritte Symphonie war für den Elfjährigen ein Erweckungserlebnis. Man höre nur, wie das für Krystian Zimmerman geschriebene und 1988 uraufgeführte „Konzert für Klavier und Orchester“ Tastenlöwentum, koloristische Finesse und tonalen Freigeist zusammenführt.
Lutoslawski hatte nicht nur von seinem distinguierten Auftreten her etwas Französisches. Seine Leidenschaft für die Färbungen des Orchesterklangs verdankte er Claude Debussy, und er hätte in Paris bei Nadia Boulanger studiert, wenn ihn der Zweite Weltkrieg gelassen hätte. Seiner Ausbildung nach hatte er wiederum etwas Russisches, denn sein Lehrer Witold Maliszewski, der ihn mit 13 Jahren als Kompositionsschüler aufnahm, hatte bei Nikolai Rimski-Korsakow gelernt. Vor allem aber war er Pole, was für ihn zunächst hieß, seinen künstlerischen Freiheitsdrang keiner staatlichen Doktrin zu unterwerfen – nicht zu stalinistischen Zeiten, die ihn mit dem diffusen Vorwurf des Formalismus konfrontierten, und nicht zu Zeiten von Jaruzelskis Kriegsrecht, als er öffentliche Auftritte verweigerte. Dennoch war er kein politischer Künstler.
Seine Widerständigkeit lag in der Unbeugsamkeit, mit der er sich seinen Weg durch die Tauwetterperiode suchte, die ihn 1954 mit dem „Konzert für Orchester“ schlagartig berühmt machte. Ein Showstopper, dessen modernistische Klippen und Béla Bartók ins Polnische übersetzende Folklorismen ihm bald fremd waren. Sicher steht er noch nicht für Lutoslawskis Personalstil, birgt aber schon vieles in sich, was später nur unendlich raffinierter und weniger bombastisch war. Das Thema des ersten Satzes kennt man als Erkennungsmusik von Gerhard Löwenthals missionarisch antikommunistischem „ZDF-Magazin“ aus den 70er und 80er Jahren.
Seine Distanz gegenüber politischem Bekennertum mag auch eine Folge bitterer Erfahrungen gewesen sein. Denn Lutoslawskis Vater, der 1915 mit der ganzen Familie als Kämpfer für die Unabhängigkeit Polens vor den Deutschen nach Moskau geflohen war, wurde dort zusammen mit seinem Bruder 1918 von Bolschewiken verhaftet und erschossen. Witolds Bruder Henryk wiederum kam 1940 als sowjetischer Kriegsgefangener in einem Lager an der Kolyma ums Leben, während er selbst sich aus deutscher Kriegsgefangenschaft ins besetzte Warschau gerettet hatte. Dort bestritt er seinen Lebensunterhalt unter anderem als Kaffeehausmusiker. Zusammen mit seinem Freund Andrzej Panufnik, der 1954 nach England auswanderte und 2014 seinen 100. Geburtstag feiern würde, führte er etwa seine bis heute meistgespielten Paganini-Variationen auf. Alle anderen Kompositionen – wie die von Panufnik – verloren sich in den Kriegsflammen. Der englische Lutoslawski-Kenner Charles Bodman Rae vermutet wohl nicht zu Unrecht, dass der Komponist das ganze Chaos eines Jahrhunderts der Extreme in der Ordnung seiner Musik bändigen wollte. Form war für ihn etwas, das erfahrbar sein musste. Darum mühte er sich, oft in jahrelanger Arbeit. Während sein einziger nennenswerter Konkurrent Krzysztof Penderecki Werke wie am Fließband produzierte, rieb er sich mit Details auf.
Auch davon erfährt man in den Erinnerungen seines Schülers Krzysztof Meyer, die Teil einer fabelhaften Ausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“ zu Lutoslawskis 100. Geburtstag sind (11-12/2012, 160 Seiten mit einer CD des Cello-Konzerts, 22 €, www.osteuropa.dgo-online.org). Die Geigerin Anne-Sophie Mutter spricht über ihre Begegnung mit dem Meister, dessen „Chain II“ sie 1986 uraufführte: Es war ihre Initiation in die zeitgenössische Musik. Rüdiger Ritter beschäftigt sich mit dem von Lutoslawski mitbegründeten Festival für Neue Musik, dem Warschauer Herbst. Und Meyers Frau Danuta Gwizdalanka führt mustergültig in Leben und Werk ein.
Am ungewöhnlichsten sind zwei Schriftstellerbeiträge. Während Adam Wiedemann Lutoslawskis Genie erzählend huldigt, wagt sich Wojciech Kuczok, Polens kraftvollster Autor der jüngeren Generation, an „Unsortierte Bemerkungen“ über Lutoslawski und die schlesische Komponistenschule, mit der der Jubilar als Warschauer eigentlich gar nichts zu tun hat. Kuczok vergreift sich in seinen Bewertungen zwar völlig, aber die Entschiedenheit, mit der er dies tut, zeugt von einer ansteckenden Liebe.
Angetan hat es ihm vor allem die Bartók gewidmete „Musique funèbre“ (1958), mit der Lutoslawski alles Epigonale hinter sich ließ. Eine Trauermusik, die Kuczok den eigenen Tod halluzinieren lässt: „Dieses größte Werk ist wie eine im Jenseits durchdachte und von einem lebenden Genie neu verfasste ,Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta’“, schreibt er. Sie übertreffe alles, „was der große ungarische Komponist je geschrieben hat“. Das lässt sich nicht einmal im Blick auf Lutoslawskis eigenes Werk rechtfertigen, für das die „Jeux vénitiens“ (1960/61) oder „Mi-parti“ (1975/76) zumindest typischer sind. Es trifft eben jeden einfach anders.
Bei Wiedemanns „Heiliger Witold, bitte für uns“ ist es das „Livre de orchestre“ (1968), bei dem „aus dem Ersterben ein immer dichterer Grund für das entsteht, was auf unumstößliche Art und Weise durch und durch Leben ist: das, worauf der Blick des Schöpfers gerade zu ruhen gekommen ist.“ Bezogen auf einen Künstler, der sein Werk alles andere als religiös verstand, sind das ungewöhnliche Worte. Wenn sie trotzdem ins Herz von Lutoslawskis Musik treffen, dann, weil diese von einer so tiefen Weltlichkeit bewegt wird, dass sie mitunter schon wieder spirituelle Flügel bekommt.
Berliner Konzerte im Lutoslawski-Jahr:
27.1., Konzerthaus: Marek Janowski und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielen Lutosmawskis „Musique funèbre“ und das Konzert für Orchester. (Ausstrahlung auf Deutschlandradio Kultur, 29.1.,20.03 Uhr)
31.1., Konzerthaus: Das Lutoslawski Quartett spielt Streichquartette von Lutoslawski, Szymanowski und Mykietyn.
7.-9.2., Philharmonie: Manfred Honeck und die Philharmoniker spielen das Konzert für Orchester
14.-16.2., Philharmonie: Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker spielen das Klavierkonzert.Solist: Krystian Zimmerman
20.-22.2., Philharmonie: Simon Rattle dirigiert das Cellokonzert. Solist: Miklós Perényi
13.4., Philharmonie: Simon Rattle dirigiert Präludium und Fuge für 13 Solo-Streicher
18.-20.4.. Philharmonie: Simon Rattle dirigiert das Doppelkonzert für Oboe, Harfe und Streicher. Solisten: Jonathan Kelly, Marie-Pierre Langlament
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