Eugen Ruge im Interview: „Das Beste an Lenin ist sein Bart“
Der Vater verbrachte Jahre im Gulag und glaubte trotzdem an den Sozialismus. Eugen Ruge wuchs mit Beatmusik und FDJ-Hemd auf – und glaubt an seinen Vater.
Eugen Ruge, 57, wurde in Russland geboren und wuchs in der DDR auf. Für seinen Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erhielt er 2011 den Deutschen Buchpreis. Jetzt hat der Schriftsteller die Gulag-Erinnerungen seines Vaters Wolfgang neu herausgebracht: „Gelobtes Land“ (Rowohlt).
Herr Ruge, dass wir heute mit Ihnen sprechen können, verdanken wir Stalins Tod.
Das kann man so sagen, ja.
Als der sowjetische Diktator 1953 starb, saß Ihr Vater seit zwölf Jahren in sibirischen Lagern. Stalins Ende gab ihm und seiner russischen Frau neue Hoffnung. Ein Jahr später kamen Sie zur Welt.
Wenn man sich das Schicksal meines Vaters ansieht, wird einem bewusst, wie viel im Leben von Zufällen abhängt. Er war mehrmals so gut wie tot. In Moskau wäre er in den 30er Jahren fast erschossen worden, weil man ihn für einen deutschen Spion hielt. Später, während der Zwangsarbeit in Sibirien, hätte ihn beinahe ein Baum erschlagen. Dann wurde er im Lager der Sabotage bezichtigt, was seinen sicheren Tod bedeutete. Aber am selben Tag wurde der Denunziant plötzlich selbst verurteilt. Wenn nur eine dieser Geschichten anders gelaufen wäre, gäbe es mich heute nicht.
1933 war Ihr Vater als junger Kommunist aus Berlin in die Sowjetunion geflohen. Anders als viele Emigranten überstand er den stalinistischen Terror von 1936 bis 1938 unbeschadet. Auch Glückssache?
Nicht nur. Er hatte sich bewusst aus der Emigrantenszene zurückgezogen und beschlossen, Russe zu werden. Sogar die sowjetische Staatsbürgerschaft hat er angenommen.
Trotzdem wurde er nach Kriegsbeginn als Deutschstämmiger nach Kasachstan deportiert.
Ein Jahr lang saß er in der Steppe, aber richtig schlimm wurde es erst danach. Man brachte ihn in ein Arbeitslager im nördlichen Ural. Er schlief in einer Baracke mit 200 anderen Insassen, konnte jahrelang seine Kleidung nicht wechseln und wurde bei bis zu minus 35 Grad in die Taiga geschickt, um Bäume zu fällen. Man erpresste die Häftlinge mit Hunger. Nur wer das Letzte aus sich herauspresste, um die Arbeitsnorm zu erfüllen, bekam Brot. Die meisten haben das nicht überlebt. Von den 16 000 Deutschstämmigen im Lager waren am Schluss noch 600 übrig.
Wie hat Ihr Vater das durchgestanden?
Er war außerordentlich zielstrebig und zäh. Das zeigte sich auch später, als er kein Zwangsarbeiter mehr war, aber noch in Verbannung lebte. Obwohl ihm nie ein Prozess gemacht wurde und man ihm keine Vergehen zur Last legte, musste er im Nordural bleiben, in Soswa, 1500 Kilometer östlich von Moskau. Als wahrscheinlich einziger Verbannter brachte er es fertig, sich als Fernstudent an der 300 Kilometer entfernten Uni von Swerdlowsk einzuschreiben. Er fuhr illegal dorthin, um sich Lehrmaterial zu besorgen und Prüfungen abzulegen. Am Ende hatte er sein Diplom als Historiker.
Während der schlimmsten Zeit im Lager klammerte er sich an sein Lateinlehrbuch.
Vokabeln gelernt hat er wahrscheinlich kaum. So hungrig wie er war, konnte er nicht mal die einfachsten Dinge denken. Aber das Büchlein war ein Stück Zivilisation für ihn, der Beweis, dass es überhaupt eine Welt jenseits des Lagers gibt. Ich habe es übrigens noch, es ist ziemlich zerfleddert.
1956 durfte Ihr Vater nach Deutschland zurückkehren. Warum entschied er sich nach den grauenhaften Erlebnissen in der Sowjetunion für die DDR?
Er war von Kind auf kommunistisch erzogen worden, und damals gab es politisches Tauwetter – mit Chruschtschow und der Entstalinisierung. Er hat auf den echten Sozialismus gehofft.
Bald galt er als einer der wichtigsten Historiker der DDR, sein Spezialgebiet: die Weimarer Republik.
Er war sehr stolz auf seine Publikationsliste, die etwa 800 Texte umfasst. Er hat ja erst mit 39 anfangen können und hat seine ganze Kraft dann auf das Schreiben konzentriert.
Nur mit einem Text tat er sich schwer: seinen Erinnerungen an die Zeit in der Sowjetunion, die Sie nun neu herausgegeben haben.
Offenbar schrieb er schon seit den 60er Jahren daran. 1979 intensivierte sich das, bevor er die Arbeit mit der Wende für zehn Jahre unterbrach, mitten im Absatz. Mir hat er das alles verheimlicht. Ich habe ihn früh aufgefordert, seine Erinnerungen aufzuschreiben, aber er sagte: Das druckt doch sowieso keiner! Der wirkliche Grund dürfte ein anderer gewesen sein: Er war traumatisiert.
Wie sein Vater lachend die schrecklichsten Geschichten erzählte.
Dabei hat er in der Familie und vor Freunden doch offen über die Zeit im Lager gesprochen.
Ja, aber in anekdotischer Form. Er konnte lachend die schrecklichsten Geschichten erzählen: Einmal, sagte er, haben sie im Lager ein krankes Pferd vergraben, das habe ich ausgebuddelt und gefressen – roh! Beim Schreiben des Buchs dagegen hat er versucht, sich tatsächlich an die Ereignisse zu erinnern, sie im Wortsinn in sein Inneres zurückzuholen. Und das fiel ihm sehr schwer.
In der Trauerrede für ihn sagten Sie 2007, er habe das Leben genossen, wie man es nur kann, wenn man dem Tod mehrmals von der Schippe gesprungen ist.
Das wurde mir erst nach dem Tod meines Vaters richtig klar, beim Schreiben meines Romans. Als Kind nimmt man die Personen, die einen umgeben, ja einfach hin. Und mein Vater war fast immer gut gelaunt. Der verstand gar nicht, wie andere es nicht sein konnten.
Im Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ beschreiben Sie eine Familie, die der Ihren sehr ähnelt.
Auch wenn ich die Figuren an lebende Vorbilder anlehne, hat sich keine der Geschichten genauso abgespielt. Der Kurt zum Beispiel ...
... die Vaterfigur, ein gefeierter DDR-Historiker ...
... kehrt aus dem sowjetischen Lager mit einer Art Fresssucht zurück. Das trifft auf meinen Vater nicht zu. Aber aus dieser Suchtidee ist eine Figur entstanden, die ich mit vielen biografischen Details meines Vaters ausgerüstet habe.
Ihr Buch erschien vier Jahre nach dem Tod Ihres Vaters. Meinen Sie, er hätte es gerne gelesen?
Nein. Denn in meinem Roman wird Kurt als Demenzkranker beschrieben, und alles, was mit Krankheit und Alter zu tun hatte, war ihm verhasst. Ansonsten wäre er gerecht genug gewesen, um zu sehen, dass eine Figur entstanden ist, die ihm entspricht. Vielleicht war er als Historiker ein bisschen kühner als Kurt. Andererseits gibt es in seinen Büchern auch haarsträubende Passagen, etwa über die positive Rolle der Sowjetunion in den 30er Jahren. Getarnt durch diese Art Anbiederung – er nannte es Schmus – wollte er ein paar wichtige Gedanken durch die Zensur schmuggeln.
Die „Zeit“-Kritikerin Iris Radisch nennt Ihr Buch den „großen DDR-Buddenbrooks-Roman“. Wird er im Osten anders aufgenommen als im Westen?
Sagen wir es so: Eine Tendenz zur Entwertung von DDR-Biografien gibt es nicht nur vonseiten des Westens, auch die DDR-Bürger selbst haben sich immer zweitklassig gefühlt. Bei Lesungen kommen manchmal Menschen aus der ehemaligen DDR auf mich zu und sagen: Danke, Sie haben mir ein Stück meines Lebens zurückgegeben.
Andere Leser waren weniger begeistert. Ihr Onkel Walter, der ebenfalls in einem sibirischen Lager saß, warf Ihnen vor, Sie hätten ihn symbolisch ermordet.
Quatsch! Im Roman kommt Kurts Bruder im Lager um, aber das ist nicht mein Onkel, sondern eine literarische Figur. Die, die meinen Onkel tatsächlich fast ermordet hätten, denen hat er interessanterweise verziehen. Nach seiner Rückkehr in die DDR idealisierte er zunehmend, was er in Russland erlebt hatte. Meine Cousine wusste nicht einmal, dass ihre Eltern im Lager gewesen waren. Sie fand es erst mit 15 heraus.
Wie der Vater das Leben in der DDR empfand.
Wie empfand Ihr Vater nach seiner Rückkehr das Leben in der DDR?
Er war verzweifelt über vieles. Wir haben offen gesprochen, ich durfte Westfernsehen gucken und Beatmusik hören, zu einer Zeit, als das noch problematisch war. Eines Tages bekam ich Ärger in der Schule. Ich hatte mein FDJ-Hemd vergessen und wurde dafür kritisiert. Einer meiner freundlichen Klassenkameraden stand dann tatsächlich auf und sagte: Ja, und er hört Beatmusik und hat eine komische Meinung zum israelisch-ägyptischen Konflikt. Ich wäre fast von der Schule geflogen.
Hat Ihnen Ihr Vater geholfen?
Er war beim Direktor, da wurde dann auch über meine „langen“ Haare verhandelt, die ein bisschen über die Ohren gingen. Zur selben Zeit war in Moskau der glatzköpfige Chruschtschow abgesägt worden. Mein Vater sagte: Wenn wir Leute nach den Haaren beurteilen, müsste Chruschtschow ja der beste Marxist gewesen sein und Marx der schlechteste. Am Ende lenkte der Direktor ein.
Als Wehrdienstleistender mussten Sie an die innerdeutsche Grenze.
Am ersten Tag hieß es: Wenn ihr absichtlich danebenzielt, stellen wir euch vor Gericht. Ich bin sicher, dass ich keinen Flüchtling umgebracht hätte. Aber wie kompliziert es war, zeigt Folgendes: In manchen Abschnitten waren Selbstschussanlagen montiert. Wenn man jemanden davor bewahren wollte, in so eine tödliche Anlage hineinzurennen, musste man ihm in die Beine schießen. Ich bin aber nie in eine solche Lage gekommen.
Bevor Sie mit dem Schreiben anfingen, haben Sie als Naturwissenschaftler gearbeitet, studiert haben Sie Mathematik. Von Angela Merkel heißt es, sie sei Physikerin geworden, weil sie möglichst wenig mit Ideologie zu tun haben wollte. War es bei Ihnen ähnlich?
Ich habe vor allem Mathematik studiert, weil ich in meine Mathelehrerin verknallt war. Sie werden lachen, ich war sogar eine Zeit lang mit ihr verheiratet! Als wir uns kennenlernten, war ich 17, und sie war 21. Sie musste dann natürlich die Schule verlassen, das ging aber alles glimpflich ab.
1988 sind Sie in den Westen gegangen. Weil Sie innerlich mit der DDR gebrochen hatten?
Während meiner Studentenzeit hatte ich eine Phase, in der ich die DDR vom marxistischen Standpunkt aus kritisiert habe. Weil ich kapiert hatte: Mit Marxismus hat das hier gar nichts zu tun, das ist Staatskapitalismus. Bald habe ich nicht mehr geglaubt, dass der Sozialismus überlebensfähig ist. Ich rechnete mit ökonomischen Lockerungen, etwa so wie heute in China, und ich dachte: Ehe es hier so wird wie in der Bundesrepublik, kann ich auch gleich rübergehen.
Trotzdem hat es noch Jahre gedauert, bis Sie flohen.
Die Gelegenheit musste sich erst ergeben. Als ich das erste Mal in den Westen durfte, bin ich zurückgekommen, denn ich war noch nicht mit der Frau verheiratet, mit der ich damals zusammen war – und sie sollte ja nachkommen. Beim zweiten Mal hat es dann geklappt: Da bin ich in den Westen gereist, um an der Geburtstagsfeier eines Onkels teilzunehmen, der in Wirklichkeit gar nicht mein Onkel war. Die Stasi hat das nicht gemerkt. Die waren eben doch ein sehr ineffektiver Verein.
Wussten Ihre Eltern Bescheid?
Meinem Vater habe ich es angedeutet. Der verstand, dass ich die Schnauze voll hatte, dass ich mal nach Paris wollte, dass mir der Anschluss an die Weltkultur fehlte. Meiner Mutter konnte ich es nicht sagen. Sie hätte alles getan, um es zu verhindern. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil sie ihren Sohn nicht verlieren wollte. Wer rüberging, der war im Jenseits, so fühlte sich das an.
Haben Sie keine negativen Konsequenzen für Ihre Eltern befürchtet?
Sie waren ja schon pensioniert. Außerdem hauten damals so viele ab, da wurde kaum noch drauf reagiert. Als ich floh, wurde am Theater Leipzig gerade die Uraufführung eines Stücks von mir vorbereitet. Das haben die nicht mal abgesetzt.
Wie Eugen Ruge in den Westen kam.
Wie hat der Westen auf Sie gewirkt?
In der ersten Zeit habe ich Saatgut für einen Großhandel in Krefeld ausgefahren. Ich hatte ja kein Geld, war nur mit einer Reisetasche in den Westen gekommen. Einmal fuhr ich eine Lieferung zu einem Einzelhändler, der mich wütend fragte: Wieso kommen Sie erst jetzt? Ich habe doch schon vorgestern bestellt! Das war, glaube ich, der Moment, wo ich begriff, wie ungeheuer groß der Abstand zwischen der DDR und dem Westen war.
Wenn man alte Bilder von Ihrem Vater sieht, fällt auf, wie ähnlich Sie sich beide sind.
Lustig, gestern sagte ein Kollege von Ihnen, dass ich ihm überhaupt nicht ähnlich sehe.
Erkennen Sie manches von ihm an sich wieder?
Ja. Zum Beispiel die strikte Vormittagsarbeit und einen gewissen Drang zur Regelmäßigkeit und Ordnung, obwohl ich mich jahrelang geweigert habe, das anzuerkennen.
Und politisch?
... sehe ich den Kapitalismus zunehmend kritisch, wie er. Und ich verstehe, dass man soziale Utopien wachhält. Nur: Bevor man ein Wort wie Systemwechsel in den Mund nimmt, sollte man sich umdrehen und zur Kenntnis nehmen, was passiert ist beim letzten Systemwechsel.
Ist das eigentlich ein Lenin- oder ein Trotzki-Bart, den Sie da tragen?
Das Beste an Lenin, rein äußerlich, ist sein Bart. Es gibt ein Foto, das zeigt ihn bartlos, als er gerade aus dem finnischen Exil zurückkommt, kurz vor dem Oktoberumsturz – da sieht er erstaunlich uncharakteristisch aus, man erkennt ihn kaum. Vielleicht ist es das auch bei mir – der Wunsch, etwas Charakteristisches im Gesicht zu haben.
Von Lenin lernen ...
... heißt Bart tragen, genau.
Wie hat Ihr Vater den Zusammenbruch der DDR verkraftet?
Er war erschüttert. Am Ende seines Lebens vor dem Scherbenhaufen seiner Überzeugungen zu stehen, war schwer zu verkraften. Und er vereinsamte politisch. Die bürgerlichen Historiker wollten nichts mit ihm zu tun haben, er konnte nur im „Neuen Deutschland“ publizieren – und was er dort Kritisches etwa über Lenin schrieb, ist ihm von einigen seiner ehemaligen Genossen stark verübelt worden. Das reichte bis zu Morddrohungen.
Seine Gulag-Erinnerungen erschienen 2003 schon einmal – in einem kleinen kommunistischen Verlag. Sonst interessierte sich damals keiner dafür. Nun wird das Buch im Fahrwasser Ihres Erfolgs sicher eine ganz andere Aufmerksamkeit bekommen.
Ich habe von meinem Vater sehr viel gelernt. Was er mir über die Geschichte unserer Familie erzählt hat, war eine wichtige Anregung für meinen Roman. Ich hatte immer große Angst vor der Vorstellung, ihn eines Tages als alten Mann pflegen zu müssen. Aber als es dann passierte, war es gar nicht so schlimm. Ich hatte eher das Gefühl, dass ich etwas zurückgeben konnte von dem, was ich von ihm bekommen hatte. So ähnlich geht es mir jetzt auch mit dem Buch. Und das macht mich sehr glücklich.
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