Kultur: Das armenische Mädchen
Elif Shafak erzählt von der multikulturellen Vergangenheit der Türkei
Aus Rache an der armenischen Großfamilie ihres Exmannes Barsam verliebt sich die Amerikanerin Rose in den Türken Mustafa Kazanci. „Was wird dieses unschuldige Lamm seinen Freunden erzählen, wenn es groß ist?“, sorgt sich Barsams Familie um die gemeinsame Tochter Armanoush Tchakhmakhchian. „Meine ganze Familie“, sagt sie, „besteht aus Sowieso Sowiesoians, und ich bin die Enkeltochter von Überlebenden des Genozids, die 1915 alle ihre Verwandten durch türkische Schlächter verloren, aber ich wurde von einem Türken namens Mustafa dazu erzogen, den Genozid zu leugnen! Was ist denn das für ein Treppenwitz?“
Es gibt für das türkische Selbstverständnis kein tabubeladeneres Thema als den Völkermord an den Armeniern, der offiziell bis heute geleugnet und als „Umsiedlungsaktion“ verharmlost wird. Die im vergangenen Jahr veröffentlichte und schnell zum Bestseller avancierte türkische Übersetzung des Romans „Der Bastard von Istanbul“ brachte der 1971 geborenen türkischen Autorin Elif Shafak prompt eine Anklage wegen „Beleidigung des Türkentums“ ein. Dass sie letztlich freigesprochen wurde, ist ein gutes Zeichen, aber keine Entwarnung, wie der Mord an Hrant Dink und die Bedrohung Orhan Pamuks gezeigt haben.
Armanoush, deren Name ihre Mutter zu Amy amerikanisiert, wächst abwechselnd bei ihr in Arizona und bei ihren armenischen Verwandten in San Francisco auf – bis sie eines Tages von dem Gefühl verunsichert wird, „dass ihr etwas abging, dass ein Teil ihrer Identität fehlte, ohne den sie nicht anfangen konnte, ihr eigenes Leben zu leben“. In einem Chatroom griechischer, sephardischer und armenischer Amerikaner, deren Familien aus Istanbul stammen, entdeckt sie einen Fragebogen, mit dessen Hilfe „der Grad des eigenen Armenischseins“ gemessen werden soll: „Hast du als Kind unter handgestrickten Decken geschlafen oder in der Schule handgestrickte Jacken getragen?“, wird da gefragt, und: „Hast du tief drinnen das Gefühl, dass es mit deiner Vergangenheit mehr auf sich hat, als du je erfahren dürftest?“ Da sie sämtliche Fragen mit Ja beantwortet hat, beschließt sie, zur Familie ihres Stiefvaters nach Istanbul zu reisen.
Dort trifft sie auf die etwa gleichaltrige Asya, die ihr Leben der Tatsache verdankt, dass Mustafas damals 19-jähriger Schwester Zeliha eine Abtreibung misslungen war. Asya wächst in einer allein aus weiblichen Mitgliedern bestehenden Familie auf, da die männlichen Kazancis, wie von einem Fluch belegt, sämtlich in jungen Jahren das Zeitliche segnen, in St. Petersburg den Erfrierungstod erleiden, beim Besuch eines Fußballspiels von einem Hooligan erschossen oder an einer Baustelle von Betonbrocken erschlagen werden. Mit 19 Jahren ist Asya ein glühender Fan von Johnny Cash, schwelgt regelmäßig im Café Kundera im Ennui und genießt die „komatöse Trägheit und absurde Disharmonie“.
Eine illustre Gesellschaft schwadroniert dort über Gott und die Welt: „Ich wünschte, wir wären eine ethnische Minderheit oder ein Volk von Eingeborenen unter dem Schutz der UN-Charta. Dann hätten wir wenigstens ein paar Grundrechte“, lamentiert ein Poet, „Nihilisten, Pessimisten und Anarchisten gelten jedoch nicht als Minderheit, obwohl wir eine vom Aussterben bedrohte Art sind.“
Als sich die Wege von Amy und Asya in Istanbul kreuzen, reagieren die Familiengeschichten beider miteinander wie hochexplosive Stoffe. Als Amy beim Abendessen von der Vernichtung ihrer armenischen Familie erzählt, ist Asyas Tante tief betroffen. Wer denn diese Grausamkeiten begangen habe, fragt sie. „Die Türken haben es getan“, erwidert Amy. „Für die Türken ist die Vergangenheit ein anderes Land“, stellt sie bald fest.
Den Armeniern ginge es hingegen um die Anerkennung ihres Schmerzes. Aber vielleicht ist es auch noch komplizierter. „Nun, in Wahrheit“, vermutet ein armenischer Gast im Chatroom, „wollen einige Armenier in der Diaspora gar nicht, dass die Türken den Völkermord anerkennen. Wenn sie das tun, ziehen sie uns nämlich den Boden unter den Füßen weg und nehmen uns das Band, das uns am stärksten zusammenhält.“
Shafak belehrt nicht, sie deutet auch keine Lösungen an, sondern zeigt den Konflikt mit der gebotenen Schonungslosigkeit. Mit „Der Bastard von Istanbul“ hat sie einen gewichtigen Roman über die Türkei und ihre multikulturelle Vergangenheit geschrieben. Es gilt: „Die Vergangenheit ist alles andere als vergangen.“ Zugleich weiß sie, „dass man manche Dinge nicht erzählen kann, egal wie oft und wie wahrheitsgemäß man die Vergangenheit heraufbeschwört“. Seit Jeffrey Eugenides’ Roman „Middlesex“ ist wohl nicht mehr so plastisch von den Monstrositäten des 20. Jahrhunderts und ihren die Kontinente überspannenden, bis in unsere Tage spürbaren Nachbeben erzählt worden.
Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul. Roman. Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007. 460 Seiten, 22,90 €.
Andreas Pflitsch
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