Richard Ford: Das alte Lied vom Scheitern
Richard Ford hat mit seiner Trilogie um den Sportreporter und späteren Immobilienmakler Frank Bascombe ein Meisterwerk der jüngeren amerikanischen Literatur erschaffen. Nun, mit 68 Jahren, veröffentlicht der Schriftsteller den Roman "Kanada", der als neue literarische Großtat angekündigt wird.
Die Erinnerung, lautet ein oft zitierter Sinnspruch von Jean Paul, ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Er unterschlägt, dass sie im gleichen Maß zur Hölle werden kann, der man nicht entkommt. Das Doppelte von Zuflucht und Unentrinnbarkeit gehört seit jeher zu den erzählerischen Antriebskräften, doch es ist das Privileg der modernen Literatur, auch dem Entstehen von Erinnerung nachzugehen: dem Flackernden und Konstruierten, dem Fragmentarischen, Unzugänglichen und Verdrängten. Erinnerung meint allenfalls, sich selber zu verstehen; gerade wo sie sich als geschlossener Text entwirft, verfehlt sie etwas, dessen Brüche andere lesen müssen.
„Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten.“ Mit diesem zweifachen Paukenschlag setzt Richard Fords Roman „Kanada“ ein. Binnen weniger Seiten bringt ihn das Illusionsorchester einer detailwütigen Beschreibungsprosa auf das Niveau jener mächtigen Vergeblichkeits- und Einsamkeitsmusik, die Ford wie kaum ein anderer beherrscht. Der Icherzähler, Dell Parsons, weiß genau, wie groß sein Vater Bev war und welche Beschaffenheit dessen Wimpern und Wangenknochen hatten. Er malt uns die Stirnadern seiner jüdischen Mutter Neeva aus und den Flaum an ihrem Kinn, und er stellt uns seine Zwillingsschwester Berner mit den Warzen an den Fingern vor. Jeder bekommt seinen Namen und seine Eigenheiten umgehängt, und ehe man sich’s versieht, befindet man sich im Frühjahr 1960.
Dell und Berner besuchen die Highschool von Great Falls, Montana, und sind mit 15 Jahren in jenem Alter angelangt, auf das Ford sich am besten versteht. Auf der Kippe zwischen jugendlicher Naivität und ahnendem Erwachsensein entfaltet sich der Versuch, der seltsamen Ehe der Eltern nachzugehen, der Fremdheit zwischen dem Air- Force-Mann und der leicht bohemehaften Frau, und vor allem: der Verzweiflungstat, zu der sie sich entschlossen, nachdem Bev mit illegalen Geschäften Schulden angehäuft hatte. Und doch zeigt sich bald, dass hier kein Pubertierender erzählt, sondern jemand, der sich auf das andere Ende des Lebens zubewegt: Dell ist mittlerweile 66 Jahre alt, gerade einmal zwei Jahre jünger als der Schriftsteller, der ihm hier die Stimme leiht.
„Kanada“ ist ein Buch, das sich Richard Ford noch einmal unter Aufbietung aller Kräfte abgerungen hat. Was musste es nicht sein: die Befreiung aus den Klauen Frank Bascombes, jenes späteren Immobilienmaklers, dem Ford eine Trilogie widmete, die zu den Großtaten der jüngeren amerikanischen Literatur gehört: „Der Sportreporter“ (1986), „Unabhängigkeitstag“ (1995) und „Die Lage des Landes“ (2006) sind bewegende Bestandsaufnahmen einer inneren und äußeren Mentalität über zwei Jahrzehnte hinweg. Und was will es nicht sein: die Abrundung seines Werks, indem es die Brücke zu jenen Storys schlägt, mit denen er 1987 Furore machte. „Rock Springs“ sammelte Momentaufnahmen von Gaunern, geplagten Frauen und mitleidenden Kindern, Geschichten zwischen Gefängnis und Flucht, dem Wyoming der Titelgeschichte und einem Great Falls, Montana, das einer anderen den Titel gab – erzählt von einem Halbwüchsigen, dessen Vater als Sergeant bei der Air Force gedient hatte.
Aber was ist gegen das maulfaule Pathos dieser Schlaglichter nun dieses vor sich hinquellende Ungetüm von fast 500 Seiten: die Imitation eines Tons, der nur selten die frühere Prägnanz erreicht und stattdessen auf ein Feld von Binsenweisheiten gerät, die man dem Erzähler Dell Parsons nicht zuschreiben möchte – geschweige denn Ford selbst. „Das muss allen Eltern und Kindern so gehen: Man kennt sich nur zum Teil“, heißt es da. Oder: „Das Getane; das Nie-Getane; das Geträumte. Irgendwann nach langer Zeit fließen sie ineinander.“ Und: „Ereignisse, die das ganze Leben verändern, sehen manchmal nicht danach aus.“ Lebensphilosophie für Anfänger, die Erfahrungen resümiert statt sie erzählend anzugehen. Denn falsch sind nicht diese Behauptungen selbst. Falsch ist, dass sie als Behauptungen auftreten müssen.
Das Grundproblem des Romans sind aber die 40 Jahre Erinnerungsspagat zwischen dem 15-jährigen und dem 66-jährigen Dell Parsons, der ein geradezu unheimlich zuverlässiger Erzähler ist. Nicht nur, dass ihm alles mit einer trügerischen Vollständigkeit vor Augen steht, die erkenntlich darauf angelegt ist, den unterhaltungsbedürftigen Leser ins gut ausgeleuchtete Bild zu setzen. Bis kurz vor Ende fragt man sich, was er in der Zwischenzeit gemacht hat – und mehr noch: was die Zeit mit ihm gemacht hat. Warum erzählt er diese Geschichte? Und warum erzählt er sie erst jetzt?
Ford verharrt viel zu sehr im Horizont des jungen Dell und verweigert ihm den reflektierenden Abstand, den der alte haben müsste. Schleife um Schleife dreht er um die Motive und Umstände der „entscheidenden Weichenstellung“, als die der Raubüberfall der Eltern im dritten Satz charakterisiert wird – als hätte er sich jemals als unerhebliches Ereignis entpuppen können. Mit seinem gealterten Icherzähler, der auf den letzten Seiten zumindest einige offene Fragen noch im Schweinsgalopp beantwortet, hat sich Ford ein handwerkliches Handicap eingehandelt, das jede andere erzähltechnische Perspektive leicht hätte vermeiden können.
Als wären ihm diese Unstimmigkeiten selbst nicht ganz geheuer gewesen, bezieht er sich daher auf eine informationsreiche „Chronik“, die die Mutter nach ihrem Selbstmord im Gefängnis hinterließ. Zugleich traut er auch ihr nicht recht und sucht deshalb nach Gründen, „die man rückblickend nicht mehr nachvollziehen kann und deshalb erfinden muss.“ Daraus hätte etwas werden können: Wie ein Icherzähler das nicht Miterlebte immer wieder mit Imaginationen auffüllt, sich an ihnen tröstet und berauscht. Aber in der toughen Glätte von Fords Erzählen bleibt dies ein unausgeführtes Motiv.
Damit ist noch nichts über die Schlampigkeit gesagt, mit der Ford zum Teil Dinge wiederholt, die der Leser längst weiß, sogar an dramaturgisch entscheidenden Stellen. Sowohl den Selbstmord der Mutter wie den Doppelmord, dessen Zeuge er in Kanada wird, wo Dell, mit dem Ziel, das Waisenhaus zu vermeiden, bei dem finsteren Arthur Remlinger ein neues Leben beginnen soll, flicht er erst beiläufig ein, um dann erneut davon zu erzählen. Nervig auch seine Neigung zu sentenzenhaften Kapitelabschlüssen und dem Tick, dass immer etwas zum letzten Mal geschehen muss.
Es gibt aber auch in „Kanada“ Einprägsames und Anrührendes: das späte Wiedersehen mit der Schwester, die sich von Dell in einer Inzestnacht verabschiedet hatte. Oder die Überlandfahrten im Pick-up des kanadischen Präriekuriosums Charley Quarters. Lichtmomente eines Richard Ford, der seinen späten Sommer in diesem Roman leider allzu sorglos an einen frühen Herbst verraten hat.
Richard Ford: Kanada. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Hanser Berlin 2012. 464 Seiten, 24,50 €.
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