Kultur: Chronik armer Lebensleute
Wer hier wohnt, will bleiben: Ettore Scolas Alltagsreigen „Gente di Roma“
Wer in Rom Bus fährt, beginnt an der Piazza Venezia, am Colosseum oder am Bahnhof. Jedenfalls nicht in den Vororten des EUR-Viertels oder in Mostacciano am Rande der Stadt. Dort kommt der Bus spät oder überhaupt nicht, und wenn er kommt, ist er überfüllt mit Pendlern, morgens um fünf zur Arbeit und nachts zurück. Manchmal pendeln sie sogar nur um des Pendelns willen. Denn wer dort keine Arbeit hat, tut lieber so, als habe er noch eine, als dass er zugibt, arbeitslos zu sein. Wer will schon bei den Pennern am Tiberufer landen?
Das ist nicht das Rom, das man sehen könnte von den Decks der Touristenbusse, wenn es sie denn gäbe in der chronisch verkehrsüberlasteten Stadt. Sicher, der Blick gleitet im Vorüberfahren auch über manche Sehenswürdigkeit, über die Touristen- und Pilgerhorden am Petersplatz oder am Colosseum, aber er hält sich damit nicht auf. Längst sind sie gleichgültig für die Schönheit ihrer Stadt, die Römer, die Ettore Scola in seinem locker geknüpften, halb dokumentarischen Stadtporträt „Gente di Roma“ beobachtet – lange nach Fellinis „Roma“, lange auch nach Antonionis dokumentarischem „Gente del Po“. Sie kämpfen mit anderen Fragen: sind Alltagshelden wie wir.
Da ist die Enkelin, die ihre Großmutter in der Klinik besucht und bei der an Alzheimer Erkrankten Erinnerungen wachrufen will: eine Szene von wenigen Minuten – und zugleich eine Studie voll Geduld, Zärtlichkeit und Hoffnungslosigkeit: ein kleiner Film für sich. Wie der des Familienpatriarchen, der seinem Sohn in einem edlen Restaurant eine Szene über die Qualität des Essens macht, weil er nicht ins Altersheim will. Und da ist die Ehefrau, die ihrem Mann frühmorgens das Brot für die Mittagspause schmiert, nicht ahnend, dass dieser, längst arbeitslos, es im Park verzehren wird, mit anderen Schicksalsgenossen: ein Menschenschicksal, und doch nur ein Seitenblick. Und da ist der Melancholiker, der auf dem Friedhof die Toten sprechen hört und doch mit Lebenden wie der jungen Busfahrerin nicht reden kann: ein Liebesfilm, im Ansatz nur.
Ein Reigen aus Nah- und Kurzaufnahmen, ähnlich Ettore Scolas Kinoerfolg „Le Bal“ von 1984. Man sieht: Schön ist es nicht, in dieser Stadt arm zu sein oder alt oder einsam. Doch hässlicher noch, unvertraut zu sein mit einer Stadt, die ihre Gleichgültigkeit gegenüber Fremden kultiviert. Da ist der Barkeeper, der wortreich vom Schicksal seines Vaters als Immigrant in Belgien erzählt – und den nigerianischen Einwanderer vor die Tür setzt, mitleidlos und gedankenlos. Und der Journalist, der im Bus eine Umfrage startet über das Verhalten gegenüber nicht-europäischen Einwanderern: auch hier nur Desinteresse, Gleichgültigkeit. Das kleine Zigeunermädchen, das an der Ampel ein Schild hochhält „Ich habe Hunger“, und der Frontscheibenwäscher, der an der Ampel seinen Kampf mit wasch-unwilligen Autofahrern ausficht. Und Chinesen, die auf der Piazza Vittorio Tai-Chi üben, und Demonstranten, und Lokalpolitiker. Farben, Gesichter, Sprachen. Römer.
Rom, der Moloch, hat einen großen Magen. Es kann elend sein, hier zu leben – und es ziehen doch immer wieder neue Menschen her, und wer hier wohnt, bleibt auch. Der heute 73-jährige Scola, der seit „Che ora è?“1989 nicht mehr recht präsent war im europäischen, erst recht nicht im deutschen Kino, zeigt in „Gente di Roma“ die hässlichen Seiten einer modernen Metropole – und hat doch eine Liebeserklärung an die Ewige Stadt, an ihre Bewohner und ihre Überlebenden geschaffen: ein harter Film, der glücklich macht. Vielleicht, weil die Sonne scheint, auch auf die Obdachlosen inmitten der antiken Ruinen. Weil es Parks gibt und Bänke und ein Glas Wasser am Wegrand. Oder wegen der flüchtigen Momente der Schönheit, die man halt doch erhascht, aus dem Busfenster, im Vorüberfahren.
In Berlin in den Kinos Cinemaxx Potsdamer Platz und Kulturbrauerei (OmU)
Christina Tilmann
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