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Christian Thielemann
© picture alliance / dpa

Skandal in Bayreuth: Christian Thielemann und der Takt

Während die Klassikwelt nach Andris Nelsons' Abgang über die Schuldfrage diskutiert, wird in Bayreuth hektisch ein neuer „Parsifal“-Dirigent gesucht.

„So kann ich nicht arbeiten – ich reise ab!“ Mit diesem Satz werden in Theaterkreisen gerne zickige Diven und neurotische Regisseure karikiert, die wutentbrannt von der Probenbühne stürmen, um sich vom schnell alarmierten Intendanten am Bahnhof wieder einfangen zu lassen. Der 37-jährige Dirigent Andris Nelsons gehört nicht in diese Künstler-Kategorie. Er gilt als hochkonzentrierter, ernsthafter Arbeiter – und zudem als ziemlich belastungsfähig. Das Arbeitspensum, das sich der weltweit gefragte Lette seit Jahren zumutet, ist nur mit viel Disziplin und größter Liebe zur Sache zu bewältigen. Dennoch ist es Katharina Wagner, der Leiterin der Bayreuther Festspiele, nicht gelungen, Andris Nelsons wieder zurückzuholen, nachdem er Anfang der Woche aus Franken abgereist war. Jetzt muss sie für die „Parsifal“-Premiere, mit der am 25. Juli das Festival auf dem Grünen Hügel eröffnet wird, einen Ersatz für Nelsons aus dem Hut zaubern.

Atmosphärische Störungen gibt das Management des Dirigenten als Grund an, intime Kenner der Wagner-Festspiele dagegen nennen den Namen von Christian Thielemann. Der Berliner ist seit 2015 „Musikdirektor“ in Bayreuth und soll auf Wunsch von Katharina Wagner regelmäßig die Proben besuchen, um den beteiligten Künstlern gegebenenfalls Hinweise zum Umgang mit der heiklen Akustik des Bayreuther Festspielhauses zu geben.

Da das Orchester hier in einem weitgehend abgedeckten Graben spielt, der auch noch sehr steil nach unten abfällt, haben Neulinge in der Tat oft Probleme mit der Klangbalance zwischen der instrumentalen Seite und den Sängern auf der Bühne. Thielemann kennt – und beherrscht – die Bayreuther Akustik in der Tat am besten. Doch Nelsons ist kein Debütant, er hat bei den Festspielen seit 2010 vier Sommer lang höchst erfolgreich Hans Neuenfels’ „Lohengrin“-Inszenierung musikalisch geleitet.

Gegenüber dem „Münchner Merkur“ weist Christian Thielemann jetzt alle Kritik von sich und behauptet, er habe sich „nie in irgendwelche Dinge eingemischt“. Allerdings ist der Wagner-Spezialist als schwieriger Charakter bekannt, hat mehrere Orchester im Streit verlassen und geriet an seiner aktuellen Wirkungsstätte, der Dresdner Semperoper, vor zwei Jahren in ein derartiges Kompetenzgerangel mit dem designierten Intendanten Serge Dorny, dass sich die Stadt gezwungen sah, den Vertrag mit Dorny zu beenden, bevor er sein Amt überhaupt antreten konnte.

Was auch immer sich nun hinter den Bayreuther Kulissen abgespielt haben mag, Festivalchefin Katharina Wagner steht unter massivem Druck: Unter den Taktstock-Stars dürfte sich keiner finden, der mal eben spontan zwei Monate Zeit hat – denn es geht ja nicht nur darum, die Premiere zu retten, sondern auch die ganze Aufführungsserie des „Parsifal“, deren letzter Abend am 28. August stattfinden soll. Sie wird darum wohl auf einen No-Name-Maestro setzen müssen, einen Nachwuchs-Kapellmeister, der den Traum träumt, als Einspringer über Nacht selber berühmt zu werden.

Andris Nelsons und Christian Thielemann übrigens werden sich spätestens ab Herbst 2017 wieder sehr nahe kommen. Dann nämlich übernimmt der Lette die Chefposition beim Leipziger Gewandhausorchester, dem Erzkonkurrenten von Thielemanns Dresdner Staatskapelle.

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