Klassik: Chopin: Einer von uns
Mit einem Festival und viel Beton bereitet sich Warschau auf das Chopin-Jubiläum 2010 vor. Nichts weniger als ein völlig neues Chopin-Bild wollen die Musikwissenschaftler vom Nationalen Chopin-Institut dann installieren.
In einer Cognacflasche soll das Herz von Fryderyk Franciszek Chopin nach Warschau zurückgebracht worden sein. Von seiner Schwester Ludowika. Heimlich wurde es im Keller der Heiligkreuzkirche aufbewahrt. Inzwischen ist es in einen Pfeiler am Eingang der Kirche eingemauert, die dadurch zu einem Wallfahrtsziel patriotisch gesinnter Musikliebhaber wurde. Allerdings müssen die sich dieser Tage mit Baulärm und Schmutz abfinden. Fieberhaft wird in dem Gotteshaus gearbeitet. Wie alle Orte in Polen, die mit Chopin in Zusammenhang stehen, soll auch die Warschauer Heiligkreuzkirche zum 200. Jahrestag von Chopins Geburt am 1. März 2010 weit über das Land hinaus strahlen.
Nichts weniger als ein völlig neues Chopin-Bild wollen die Musikwissenschaftler vom Nationalen Chopin-Institut dann installieren. Weg vom ewig melancholisch umflorten Nationalhelden, der unter einer Trauerweide auf Inspiration wartet. So zeigt ihn das monumentale Denkmal im Warschauer Lazienki-Park, dessen Aufstellung die russischen Besatzer 1908 verboten und das die Deutschen 1940 gesprengt hatten, weil Chopins Polonaisen und Mazurken immer als Symbole polnischen Selbstbewusstseins verstanden wurden. Beim Festival „Chopin und sein Europa“, das nun dem Chopin-Jubiläum ein halbes Jahr vorauseilte, liegt der programmatische Schwerpunkt jedoch auf der in Polen gerne vergessenen Tatsache, dass Chopin eng in ein internationales Netzwerk von Komponisten eingebunden war. So spielten Andreas Staier und Concerto Köln auf historischen Instrumenten das dritte Klavierkonzert von John Field, der als Erfinder des Klavier-Nocturnes gilt, und dem Chopin schon deshalb viel verdankte. Er schätzte seinen irischen Kollegen sehr, außerdem ist der dritte Satz des Konzerts „Tempo di Polacca“ überschrieben, so dass sich die Querverbindungen von selber ergeben.
Ähnlich geschickt setzen die restlichen Programme des bis zum kommenden Montag dauernden Festivals auf die offenen Ohren des verblüffend jungen Publikums in der Nationalen Philharmonie. Neben unbekannten Symphonien unbekannter Zeitgenossen sind auch die beiden Klavierkonzerte Chopins sowohl mit historischen als auch mit modernen Instrumenten zu hören, obwohl der künstlerische Leiter Stanislaw Leszczinsky gerne mit seiner „Steinway-Allergie“ kokettiert.
Zum Staraufgebot gehören Emanuel Ax und Christoph Predardien ebenso wie Martha Argerich und die Capuçon-Brüder. Im kommenden Jahr wird das bisher zweiwöchige Festival auf den ganzen August ausgedehnt und soll mit spektakulären Konzerten ein internationales Publikum anziehen. Die Akademie für Alte Musik wird „Chopin und sein Europa“ mit seinem letzten Werk eröffnen, einem Orchesterfragment des Mazurek Dabrowskiego, direkt gefolgt von Bachs h-moll-Messe, die für den polnischen Königshof geschrieben wurde. Dazu sollen die Lebensorte des Komponisten auf der Warschauer Prachtstraße, dem Königsweg, besonders illuminiert werden, während das Konzert in die gesamte Innenstadt übertragen wird. Original erhalten ist von diesen Lebensspuren allerdings nur die Kirche der Visitantinnen, in der Chopin die Orgel im Gottesdienst spielte. Die verschiedenen Wohnungen und sein Stammcafé gingen im deutschen Bombardement nach dem Warschauer Aufstand unter.
Im Palais Czapski, direkt neben der Heiligkreuzkirche, wurde in den sechziger Jahren der Salon der Familie Chopin rekonstruiert. Der Besuch ist ein leicht surreales Erlebnis: Am Ende eines langen Behördenganges öffnet sich die Tür zum Biedermeierwohnzimmer, das mit Leihgaben aus dem Nationalmuseum ausgestattet wurde. Der Flügel Chopins ist durch ein baugleiches Modell ersetzt worden, weil russische Soldaten das Original bei einem Umzug der Mutter in das Palais Krazinski „versehentlich“ aus einem Fenster im dritten Stock warfen.
Etwas versteckt liegt das ebenfalls wieder aufgebaute Palais Ostrogski, auch dieses Gebäude ist zurzeit eine einzige Baustelle. Hier wird im kommenden Frühjahr das Chopin-Museum wiedereröffnet, dessen neue Präsentation bereits im Internet zu bewundern ist.
Direkt um die Ecke liegt die Musikhochschule, selbstverständlich ist auch sie nach Fryderyk Chopin benannt. Stolz verweist der Kanzler auf das Vorhaben von Lehrern und Studenten, im Jubiläumsjahr sämtliche Werke des Namenspatrons in dem kühlen Zweckbau aus den fünfziger Jahren aufzuführen. Hier wird nicht gebaut. Man hofft noch auf eine Erweiterung für die dringend benötigten neuen Übungs- und Seminarräume.
Die größte Baustelle ist das Geburtshaus im etwa 50 Kilometer von Warschau entfernten Zelazowa Wola. Hier wird für ungefähr 30 Millionen Euro ein neues Besucherzentrum mit kleinem Konzertsaal errichtet und der Park komplett umgestaltet. Das unscheinbare Häuschen ist die zentrale Pilgerstätte polnischer Chopin-Enthusiasten. Ursprünglich war es bloß ein unscheinbares Nebengebäude des Schlosses der Grafen Skarbek, bei denen Fryderyks Vater als Französischlehrer arbeitete. Als es 1931 zum Museum wurde, begannen die Verschönerungsmaßnahmen. Ein Säulenportikus wurde hinzugefügt, das Dach auf repräsentatives Format gebracht.
Auf skeptische Nachfragen, wie viel Originalsubstanz noch erhalten sei, antwortet Museumskurator Tadeusz Owczuk, dieses Haus habe vor allem emotionale Bedeutung, es sei gleichgültig, wie es damals wirklich aussah. Bei so viel Heldenverehrung wird deutlich, wie überfällig die Neubewertung ist. Jakub Szczypa vom Chopin-Institut betont: „Chopin soll nicht mehr mit langweiligen Schulstunden, nationaler Trauer und falsch verstandenem Patriotismus verbunden werden.“
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