„Wie wir begehren“: Carolin Emcke über homosexuelles Leben in Deutschland
„Wie wir begehren“: Carolin Emckes Bericht über homosexuelles Leben in Deutschland.
Ein Buch über Homosexuelle in der Bundesrepublik mit einem Schuldeingeständnis beginnen zu lassen, ist schon ein kleines Wagnis. Zumindest irritiert es den Leser für die Länge eines Absatzes. Es soll in diesem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Sachbuch ja gerade darum gehen, sexuelle Identität von Schulddiskursen freizustellen, zu zeigen, wie das Begehren unter den Freiheitsprämissen einer liberalen Gesellschaft strukturiert ist. Und dann beginnt Carolin Emcke ihr Buch also mit einer Schulderzählung.
Da gab es einen Jungen in ihrer Klasse, Daniel, ein Außenseiter ohne Freunde und wohl auch ohne Chance, jemals welche zu finden. Emcke lässt diesen Daniel in Form einer Metaerzählung an verschiedenen Stellen ihres Buches auftauchen. Er ist die Personifizierung einer tragischen Coming-of-Age-Geschichte, die uns daran erinnern soll, dass Homosexualität auch in einer aufgeklärten Gesellschaft als persönliche Katastrophe erlebt werden kann.
Daniel hat sich umgebracht – und zwar in einem Alter, in dem sexuelles Begehren sich selbst noch kaum reflektieren kann. Es mögen noch andere Dinge zu diesem Selbstmord geführt haben, doch Emcke erlaubt sich mit dem Kunstgriff „Daniel“ eine literarische Überhöhung, die dem guten Zweck einer Engführung von Biographie und Gesellschaftskritik dient. Für die Autorin liegt in Daniels Tod eine kollektive Schuld, die sich nur mit den Lebensjahren, vielleicht eben auch mit einem Buch wie diesem „abtragen“ lässt. „Je entsetzter die Stimmen taten, die den Freitod kommentierten, desto zufriedener schienen sie zu sein. Als sei der Tod von Daniel ein später Triumph, als sei die Hetzjagd zu einem erfolgreichen Ende gekommen, der Schwächling doch noch ausgemacht.“ Das ist also die Grundkonstruktion dieses Buches, das mehr sein will als der persönliche Lebensbericht einer offen „schwul“ lebenden Frau in Deutschland. Carolin Emcke bereist für die Wochenzeitung „Die Zeit“ regelmäßig Länder der arabischen Welt und immer wieder trifft sie dort auf Menschen, die nicht einmal wissen, dass Homosexualität eine Option ist. Menschen, die gleichgeschlechtliches Begehren aufgrund abwesender Vorbilder gar nicht als solches identifizieren können, und wenn sie es doch einmal tun, sich damit in Lebensgefahr begeben. Diese Situation wirkt vor dem eigentlichen Thema, das im Titel des Buches anklingt, unerträglich.
In „Wie wir begehren" erzählt Carolin Emcke von einer sich ständig und unabschließbar wandelnden Lust. Denn das Begehren ist ja keine Manifestation einer seit jeher festgelegten sexuellen Identität. Gleichwohl, so Emcke, werden wir bereits im Kindesalter auf Zweigeschlechtlichkeit getrimmt. Die leicht bedauernde Erwähnung getrennter Umkleiden beim Schulsport schlägt ein wenig in die Kerbe der abgeebbten Genderdiskussionen der siebziger Jahre, als die soziale Konstruktion von Geschlecht noch viel ideologischer diskutiert wurde, als dies heute der Fall ist. Interessant ist diese Klage über normative Zweigeschlechtlichkeit dennoch im Kontext der Genese schwulen Begehrens.
Carolin Emcke wusste nämlich nicht von Anfang an, dass sie sich eines Tages fürs eigene Geschlecht entscheiden würde. Die erste nicht mehr rein kindliche Begegnung mit einem Freund hatte für sie mehr etwas „von einem Beschluss als von Begehren“. Auch späteren Etappen der erotischen Selbsterkundung wird sorgfältig nachgespürt, wenn die Autorin merkt, dass sie ihre frühe Vorliebe für Mädchen noch gar nicht mit dem Konzept von Homosexualität in Verbindung brachte („die Grenzen der Lust waren noch die Grenzen der Phantasie“). Das Begehren, kritisiert Emcke, wurde selbst im Sexualkundeunterricht aus einer linearen Erzählung herausgeschält, die ihren Fluchtpunkt in einer essentialistischen sexuellen Identität hatte. „Niemand erklärte,“ schreibt Carolin Emcke, „dass das Begehren ein Fluss ohne Ufer ist“. Mit dieser Kritik nachträglicher Normierungen wird auch der Begriff des heute so häufig verwendeten „Coming out“ obsolet, weil der genau da einen Befreiungsschlag unterstellt, wo es vielleicht gar nichts zu befreien, sondern vielmehr zu entwickeln gilt.
Kitschig wird Carolin Emcke immer dann, wenn sie in ihrer Klage über den Verlust sexueller Unbekümmertheit in utopische Schwärmerei verfällt. „Warum sind die Modulationen verschwunden aus dem Denken über das Begehren?“, fragt sie im Andenken an ihren alten Musiklehrer, der ihr das Lesen gewissermaßen zwischen den Notenlinien beigebracht hat. Aber: Hat es die jemals gegeben? Ist es realistisch, das sexuelle Subjekt, das Emcke hier als multiples Opfer stumpfer Etikettierungen entwirft, wieder in einen Naturzustand zurückführen zu wollen? Und sind Lust und Begehren überhaupt dasselbe, da letzteres sich ja immer auch auf der sozialen Ebene abspielt, also ohne Etikettierungen und Normierungen gar nicht zustande käme? Hier wirkt einiges in diesem insgesamt wichtigen Buches nicht ganz zuende gedacht. Es lässt sich verschmerzen, wenn man mit Carolin Emcke stattdessen die sexuelle Emanzipationsgeschichte der heutigen Bundesrepublik rekapituliert.
Zwanzig Jahre nach dem „Fall Kießling“ (der angeblich schwule Bundeswehrgeneral wurde im Jahr 1983 aus dem Amt geworfen), gerät eine Bundesministerin über das Gerücht ihrer Homosexualität in Panik. „Annette Schavan hätte antworten können: ‚Ich bin nicht lesbisch, aber auch als lesbische Frau wäre ich eine bessere Ministerpräsidentin als Günter Oettinger'.“ Statt dessen sprach sie von einer „Verleumdung“, die „schäbig“ und „absurd“ sei.
Die Stärke dieses Buchs liegt in solchen Entlarvungen. Und sie liegt darin, dass seine Autorin uns nicht vorschreibt, wen wir begehren sollen, sondern wie wir begehren können.
Carolin Emcke:
Wie wir begehren.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 256 Seiten, 19, 99 €.
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