Kultur: Butterweich vom Himmel
Daniel Barenboim und Claus Guth eröffnen die Saison der Mailänder Scala mit Wagners „Lohengrin“.
Von außen betrachtet ist es nur die teuerste Premiere der Welt – für die Italiener aber wird die Saisoneröffnung des Teatro alla Scala schnell eine Frage der Ehre. Zum Beispiel, wenn als Startschuss für das Doppel-Jubiläumsjahr 2013, in dem sowohl der 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi als auch von Richard Wagner gefeiert wird, ausgerechnet ein neuer „Lohengrin“ im Mailänder Opernhaus herauskommen soll. Dann kochen die Emotionen hoch. Gerade in Zeiten der Krise, heißt es da in wütenden Kommentaren, müsste es doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, den wichtigsten Tag im nationalen Kulturkalender dem Komponisten aus dem eigenen Lande vorzubehalten.
Da hilft es wenig, wenn Stephane Lissner, der französische Intendant der Scala, betont, man zeige doch im Laufe der Saison sieben Werke Verdis und nur sechs von Wagner. Andererseits ist mit Daniel Barenboim eben auch einer der besten Wagner-Interpreten der Welt Generalmusikdirektor des Hauses. Und der will nicht nur den mit der Berliner Staatsoper koproduzierten „Ring des Nibelungen“ zyklisch aufführen, was in Mailand zuletzt vor 75 Jahren der Fall war, sondern eben auch den gesellschaftlich so wichtigen Eröffnungsabend gestalten.
Erst recht zur Staatsaffäre wird die Chose, als sich Italiens Präsident Giorgio Napolitano dazu veranlasst sieht, einen Brief an Barenboim zu veröffentlichen, in dem er bedauert, nicht wie sonst zur Eröffnungspremiere anreisen zu können, weil ihn wichtige Amtsgeschäfte in Rom zurückhalten. Mit der „Lohengrin“-Produktion allerdings habe das, verehrter Maestro, nicht das Geringste zu tun.
Ganz unzweideutig fällt am Freitag dagegen der Kommentar von oben aus. Als das von Dutzenden Schaulustigen und ebenso vielen Demonstranten aus der linken Szene erwartete Defilee der anrollenden Prominenz vor der Scala beginnen soll, setzt ein geradezu teutonisches Schneetreiben ein. Wer Wagner wählt, bekommt auch deutsches Wetter!
Gekommen sind sie dennoch alle: Das italienische Großbürgertum und mancher Vertreter des neureichen Geldadels, der beweisen will, dass er sich Ticketpreise von bis zu 2400 Euro leisten kann. Ungleich mehr haben vermutlich die Outfits der sie begleitenden Damen gekostet. Eine junge Frau hat sich mit großen Amuletten und wenig Stoff als Aida verkleidet, eine andere als Walküre mit goldenem Kopfputz. Und dann ist da noch die hochgewachsene Blondine mit den aufgespritzten Lippen, die in Berliner Opernhäusern garantiert ein Transvestit wäre, hier aber im Zweifelsfall eine bekannte Ansagerin aus dem Privatfernsehen ist.
Ach ja, eine Aufführung findet auch noch statt: eine musikalisch packende, szenisch äußerst rätselhafte. Regisseur Claus Guth, von dem in Berlin im Sommer an der Berliner Staatsoper ein atemberaubender „Don Giovanni“ zu erleben war, verlegt die Geschichte aus dem Mittelalter ins späte 19. Jahrhundert. Ausstatter Christian Schmidt hat eine Kaserne auf die Scala-Bühne gestellt, drei Etagen hoch, Stahlskelettbauweise. Und ein Klavier, Symbolinstrument der bürgerlichen Erziehung, an dem Elsa Etüden ackern muss, während Hauslehrerin Ortrud immer wieder den Knickwinkel der Hände korrigiert. Bei Wagner ist diese Ortrud eine Frau, die mit heidnischem Zauber gegen die christliche Welt der Ritter kämpft. Viel gefährlicher als raunender Aberglaube aber, so behauptet der Regisseur, ist das rational denkende Böse. Und so repräsentieren Telramund und Ortrud in strenger schwarzer Kleidung hier das rationale Prinzip, während Elsa vom ungezwungenen Leben in der Natur träumt. Die lustfeindlichen Erziehungsmethoden lösen bei ihr Juckreiz und nervöse Ticks aus. Als Retter erträumt sie sich darum einen barfüßigen Lohengrin, das Brautgemach des 3. Akts wird zur Liebesszene unter freiem Himmel, am schilfumstandenen Weiher. Im Matsch liegt, mit den Tasten nach oben, das umgekippte Folterinstrument.
Ganz geht diese Deutung nicht auf, dem steht doch die schwülstige Ausdrucksweise der Freiheitsliebenden entgegen. Und auch die Rolle des kriegstreiberischen Königs Heinrich samt seiner waffenklirrenden Mannen bleibt zu ambivalent. Eine schöne Schlusspointe nach all der Militarismuskritik ist es allerdings, als Barenboim in den Schlussapplaus hinein die italienische Nationalhymne spielen lässt, eine knallige Tschingderassabumm- Musik, die alle schon zu Beginn des Abends erwartet hatten. Dem ätherisch- schwebenden „Lohengrin“-Vorspiel mag der Maestro jedoch nichts voranstellen. Schon gar nicht hier in diesem besonderen Raum. Der klassizistische Saal mit seinen sieben Logenreihen scheint ein gigantischer Geigenkorpus zu sein, wenn die Streicher im Pianissimo anheben. Butterweich, ja geradezu vanillecremig klingt das Orchester, wobei die hohen Violinen direkt aus dem Himmel herabzuschweben scheinen. Sobald Sänger dazukommen, dominieren diese das Klangbild, das dann merkwürdig altmodisch anmutet, weil die Stimmen dem Hörer ganz nah kommen, dabei aber dumpf bleiben, wie in Mono. Stereosound entfaltet nur der Chor, dann aber umso wuchtiger.
Man kann die „Lohengrin“-Partitur durchsichtiger und präziser realisieren als die professori d’orchestra der Scala. Doch was die Gluttemperaturen der Leidenschaft betrifft, wirkt diese von Barenboim mit maximaler Energie befeuerte Interpretation unmittelbar und packend. Jonas Kaufmanns Lohengrin klingt in den leisen Momenten dank der baritonalen Färbung seiner Stimme sehr männlich, kann aber auch mühelos edelstählernen Tenorglanz erzeugen. Evelyn Herlitzius ist hier die Idealbesetzung für die Ortrud: stolz, schön, berechnend. Eine rhetorisch unbesiegbare Gegnerin mit hellem, scharfem Organ, während Tomas Tomassons Telramund zu oft unfreiwillig hässlich klingt. Als Retterin des Abends aber wird Annette Dasch gefeiert, die für die erkrankte Elsa-Darstellerin Anja Harteros eingeflogen wurde: Der mädchenhaften Natürlichkeit ihres Spiels, dem Blütenweiß ihres Soprans muss man einfach erliegen.
Frederik Hanssen
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