Keith Jarrett: Wackelkontakt zur Ewigkeit
Ein Mann, ein Flügel, zwei Stunden Zeit: Keith Jarrett in der Berliner Philharmonie.
Nein, behauptet Keith Jarrett gerne, er sei kein Freak, der für improvisierte Soloauftritte geboren sei. „Es ist nicht selbstverständlich, sich ohne mitgebrachtes Material ans Klavier zu setzen, sein Bewusstsein vollständig zu entleeren und etwas zu spielen, das Bestand hat und ganz neu klingt.“ Man mache sich keine Vorstellung von den olympiareifen mentalen, physischen und emotionalen Vorbereitungen, die solche Abende erfordern. Und dann wagt er sich seit über dreißig Jahren doch immer wieder an das „starting from nothing and building a universe“. Gibt es etwas, das nicht zumindest selbstverständlicher klingen würde?
In der Berliner Philharmonie beginnt die creatio ex nihilo mit sanftem Wellenschlag in mittleren Lagen, sich modulationsreich herauswindenden Unterströmungen. Dann kräuselt sich die Oberfläche, Strudel zerreißen das Glitzern, die Reste eines zerrupften Fugatos werden hochgespült, schließlich beruhigen dunkle, aus den Bassregionen ans Licht kriechende Choräle das Gewoge. Die erste Viertelstunde ist Jarrett auf der Höhe seiner Kunst: mit einem dramatisch changierenden Klanggemälde, einer Skulptur, die sich aus den Tasten erhebt und in alle Richtungen reckt und streckt und dehnt.
Und schon wird es schwierig. Das Fiepen eines Handys bricht dem nachfolgenden Moll-Impromptu nach den ersten Takten das Genick. Jarrett, ein schwarzer Pädagoge und Noli-me-tangere-Prinz auf der Erbse des gerade erst begonnenen Abends, geißelt in einer seiner berüchtigten Ermahnungspredigten dafür gleich das ganze Publikum. Fürs Erste, als würden seine ungnädig-gnädigen Einlassungen sie nicht noch weiter schwinden lassen, ist seine Konzentration dahin. Jarrett, so göttlich seine Eingebungen sein mögen, unterhält auch einen Wackelkontakt zur Ewigkeit. Und so flüchtet er in eine jener nervös hingehuschten Tonwurmverschlingungen, die neuerdings so viele seiner Solokonzerte durchwuseln, ein Aufflackern von Möglichkeiten, die sich noch nicht als solche erkannt haben, und rettet sich zuletzt in die Regionen des zuvor abrupt beendeten Impromptus zurück.
Wie oft hat er mit diesen Rasereien inzwischen die Geister der Formlosigkeit verscheucht: ein Kind, das erst einmal alle seine Spielkisten wahllos ausschüttet, um dann etwas aus den verstreuten Teilen zu bauen. Wo er früher, als seine Konzerte noch in große Blöcke unterteilt waren, manchmal minutenlang auf der Stelle trat, bevor ihn ein Einfall erlöste, da agitiert er sich heute selbst, um Frieden in Sätzen zu finden, in denen himmlische Glockenspiele über einem bordunhaften Bass schweben, Melodierinnsale, sekundenkurz aufsprudelnd, finsteres Gewölk in den unteren Oktaven beregnen oder dichte Akkordrückungen durch romantische Faltengebirge ziehen. Und immer wieder Sentimentalisches, von Jazzschwelgereien, die sich aufrappeln zu handfestem Blues oder einem munteren Stride Piano.
Aber nie ist sicher, ob das Glück nicht schon im nächsten Moment durchkreuzt wird: von einem Fotografen im Publikum, der ihn aus dem Konzept bringt und den er umgehend scharf zur Rede stellt, von ihm selbst, der auch gerne einmal die Notbremse zieht und ein mächtig daherstampfendes Ostinato zum Halt bringt, oder von einer direkt vor dem Zugabenteil aufwallenden Empfindlichkeit, die das auf exakt 443 Hertz gestimmte A mit theatralischer Geste um eine Nuance verschoben wähnt und den Klavierstimmer auf die Bühne zitiert. Nach der freien Improvisation nun stilsichere Standards: „My Song“, seine eigene Komposition, Duke Ellingtons „Sophisticated Lady“ und Jerome Kerns „Don’t Ever Leave Me“. Aber die innere Freiheit dieser Musik konkurriert heftig mit der Beklemmung, die man im Konzertsaal fühlt.
Der Wiederholungsfaktor der Formen, Farben und Melodien, die Jarretts Soloabende prägen, ist immens. Doch gibt es einen großen Improvisator, der sich nicht ständig notengetreu wiederholen würde? Die Wiederholung unterscheidet sich von der bloßen Floskel durch ihre Beseeltheit: Sie braucht ihr zweites und ihr drittes erstes Mal. Jarretts Musik ist mittlerweile nur so komplex, dass sich floskelhafte Passagen leichter verstecken lassen. Dennoch gleicht keiner von Jarretts Soloabenden dem anderen, wie zum 40. Jubiläum seines Labels ECM Records jetzt die 3-CD-Box „Testament“ beweist: die Dokumentation zweier Konzerte aus Paris und London, die er vor einem Jahr im Abstand von fünf Tagen gab.
In der Salle Pleyel zunächst ein Navigieren um nebelschlierenverhüllte Zacken und Klippen, losgelöst von einer eindeutigen Tonart, weit in der Erkundung des Raums und doch ganz nah an den überall aufragenden Schroffheiten, bis die großzügige Grundamplitude in Tontrauben zerplatzt und die herumpurzelnden Dissonanzen einer drängenden Unruhe Platz machen, die noch die sanglichsten Passagen bedroht. Im achten Satz brodelt dann die zu Beginn mühsam umschiffte Hektik hoch, irrlichtert quer über die Tasten, ohne Halt zu finden, und verflattert urplötzlich.
In der Royal Albert Hall anfangs eine ähnliche verhangene Grundstimmung, aber durch alle Schleier hindurch gebunden an ein klares Cis-Moll. Der zweite Satz ruckt und zuckt noch nervös herum, hängt aber fest an einem Anker in G-Moll. Schon der dritte gospelt fröhlich vor sich hin und galoppiert mit einem Boogie-Woogie-Bass davon. Was immer danach noch an Turbulenzen aufquillt, wird neutralisiert von Balladeskem und Bebop-Hast und jubiliert nach anderthalb Stunden auf in einem festtäglichen G-Dur-Halleluja.
Seine Musik lebt, und darin liegt wahrscheinlich das Geheimnis jeder Kunst, von Kontrasten: dem Wechsel zwischen Schnell und Langsam, Punkt und Fläche, freitonaler Abstraktion und entspannt vorbeirollendem Jazz, schubertscher Innigkeit und virtuos auftrumpfender Ekstase. Ein Chiaroscuro im Großen wie im Kleinen. Jarretts Mittel sind so begrenzt wie seine Tonarten: Er zieht die vor, die in die Finger gehen. Die Spannung des inneren Zusammenhangs aber, den er jedes Mal von neuem schafft, ist das Bewundernswerte – mehr noch: das buchstäblich Einzigartige.
Das ist etwas anderes als das Gerede vom besten Jazzpianisten der Welt, egal, wie viele Umfragen ihn dazu erwählen. Rein technisch hat er trotz seiner Brillanz Dutzende von Konkurrenten. Auch mit seiner stilistische Bandbreite steht er nicht allein da. Aber man muss nur einmal einen zwei Generationen jüngeren Klavierstar wie Brad Mehldau hören, der sich in seiner Trioformation durchaus mit Jarretts Trio messen kann, um zu sehen, was es heißt, sich mechanisch klappernd durch die improvisatorischen Weiten zwanzig ungeschützter Solominuten zu schleppen und dabei zu verfransen.
Keith Jarrett ist mit seinen Soloauftritten immer noch ein Naturwunder: ein demütiger Fels in der Brandung der lärmenden Beliebigkeit. Schwer zu sagen, ob ein solch unerschütterliches Felsendasein es nicht erfordert, manchmal auch als selbstgefälliger Kotzbrocken dazustehen.
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