Theater: Es fährt ein Zug im Hafen ein
Von Ankara nach Stuttgart: Der international besetzte "Orient-Express" präsentiert in sechs Ländern Theater.
Ein Theaterzug – wo gibt’s denn so was? So was gibt’s in der Türkei. Da fährt ein Zug durchs Land und spielt für die Jugend. Inzwischen reiste er durch sechs Länder, mit sechs Theaterstücken, und steht jetzt am Stuttgarter Hafen, noch immer ein eher unbekanntes Land auch für Stuttgarter. Der „Orient-Express“ fährt ein, Waggon-Klappe runter, Bühne fertig, das Spiel kann beginnen.
Orient-Express, da denken wir an Agatha Christie, an Luxus und Dekadenz. In diesem Theater-Orient-Express geht es weniger komfortabel zu. Die Themen: Ausreisen, Ankommen und Nichtankommen, Heimat und Fremde, EU oder Nochnicht-EU, Grenzen in jedem Sinne. Die Schauspieler reisten im Zug, manchmal drei Ensembles gleichzeitig, und führten ihre Stücke im eigenen und mindestens einem fremden Land auf. Nur in Stuttgart sind alle Stücke zu sehen. Ein kleines Wunder bleibt es, wie Hasko Weber, Stuttgarter Schauspielintendant, glücklich verkündet. Der mal wieder ein Großprojekt gestemmt hat, mit unerhört vielen vereinten Kräften.
Sie spielten auf Bahnhöfen, mitten im Betrieb wie am Hauptbahnhof in Ankara, auf Güterbahnhöfen, auf verlassenen Stationen, vor Reisenden, vor vielen und vor wenigen, vor Zuschauern, die verstanden, vor Zuschauern, die nicht verstanden. Am Stuttgarter Hafen ist es fast zu ruhig und schön. Zu Beginn drei Stücke in zwei Tagen, eine heiße Bläserband, Lagerfeuer, eine schwimmende Bar, verführerischer Essensduft, wohlschmeckendes Bier, so lässt sich ins Theater gehen. Auch wenn die türkische Inszenierung des in der Türkei als progressiv bekannten Regie- und Ehepaars Övül und Mustafa Avkiran im Auftrag des Staatstheaters Ankara fremd blieb, befremdend. Direkt ins Publikum sprechen die Schauspieler ihre Geschichten, deutsch übertitelt. Geschichten über Olivenbäume als einzige Heimat, über Großmütter, junge Mädchen, missbrauchte Kinder und Mütter. Und immer wieder singen sie von Liebe und Sehnsucht. Sicher ein mutiges Stück in der Türkei, zu vage, zu sentimental, zu schlicht symbolisch erscheinen in Stuttgart Bilder und Sprache: „Ich habe mich im Kreislauf des Lebens verlaufen.“ Oder liegt es an der Übersetzung?
Betörend nur das Bühnenbild, eine Wand aus Koffern, von den Schauspielern behutsam abgebaut, die Rückwand des Waggons senkt sich, wir sehen Himmel, Wasser, Hafenbauten. Das Theater, eine Trauminsel, verankert in der realen Welt. Die türkischen Zuschauer konnten wenig anfangen mit der deutschen Inszenierung. Berichtet Schauspieler Michael Stiller, der sich wie die anderen sechs mit Verve in die Rollen des deutschen Zugstückchens schmeißt.
„80 Tage, 80 Nächte“ schrieb Regisseur Christian Tschirner unter dem Namen Soeren Voima für den Orient-Express. Eine Farce inmitten vieler Pappkartons, mit zwei Puppenspielern von der Ernst-Busch-Schule, die ihre selbst gemachten Hauptdarsteller Teddy und Tiger auf der traurig-komischen Reise ins Land ihrer Sehnsucht – Deutschland – begleiten. Die beiden Plüschtiere – Markenfälschungen – sind von Arbeiterinnen aus Bangladesch in Rumänien herstellt. Doch am ersten Grenzübergang werden sie schon abgefangen, in den Reißwolf mit ihnen! Eine gute Fee in Turnschuh-Highheels verspricht Erlösung, wenn sie in 80 Tagen und 80 Nächten jemanden finden, der sie liebhat.
Finden sie nicht. Missbraucht als Drogenkuriere wie als Kunstwerke, karikiert ihre Reise den Missbrauch des Ostens durch den Westen und des Ostens durch den noch östlicheren Osten. Aufgeschnitten, halbiert, repariert, mit kläglich unpassendem Unterteil werden sie zu verfälschten Fälschungen. Ein freches, derbes Spektakel. Bei den Rumänen kam es hervorragend an. Verwandter Humor?
Eine Überraschung für Ost-Unkundige: die Kroaten mit „Sieben Tage in Zagreb“ von Tena Stivicic, Regie Tijana Zinajic, geboren in den Siebzigern. Wunderbare Schauspieler, ein bitteres Spiel um Leben und Wünsche im Postsozialismus, um Käuflichkeit und Ehebruch, um artgerechte Tierhaltung, Hausgeburt, ein Leben bitte ohne Ausländer und Arbeitslose nebenan. Die modische Dolmetscherin bekommt keinen Hund aus dem Tierheim, sie genügt nicht den absurden neuen Vorschriften, herrlich unbeteiligt heruntergerattert von der Tierheim-Besitzerin. Wie überhaupt die zwei Männer und drei Frauen fabelhaft spielen, im Handumdrehen neue Situationen herstellen, allein durch Umgruppierung der Plastikstühle.
Es folgen ein rumänisches, ein serbisches und ein slowenisches Orient-Express-Spiel, sämtlich auf die Reise geschickt von den jeweiligen Staats- und Nationaltheatern. Ein Sieg über die Bürokratie. Ein Vorspiel für ein gemeinsames Europa? Eine Abbildung der überwindbaren und unüberwindbaren Unterschiede und Grenzen? Die Schauspieler jedenfalls erlebten Grenzen, die im westlichen Europa längst Vergangenheit sind, mit Wachtürmen und schikanösen Kontrollen. An der Grenze von der Türkei nach Bulgarien musste der Zug stundenlang warten, wegen Nichtigkeiten. Trotzdem, der Orient-Express legte pünktlich an am Stuttgarter Mittelkai. Respekt für den Projektmanager Christian Holtzhauer und sein Team.
Übrigens, am Stuttgarter Hauptbahnhof war der Orient-Express unerwünscht. Und wegen Italiens Bürokratie und Geldforderungen umfuhr er das schöne Land mit dem europaweit belächelten Präsidenten-Darsteller im weiten Bogen. Es gibt immer noch Schauspiele, die nur im eigenen Land beklatscht werden.
Infos: www.staatstheater-stuttgart.de/orientexpress; Vorstellungen bis 19. Juli
Ulrike Kahle-Steinweh
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