René Jacobs: "Die Wirklichkeit ist niemals nur lustig oder traurig"
Vor der "Orlando Paladino"-Premiere an der Staatsoper: der Dirigent René Jacobs spricht mit dem Tagesspiegel über Barock in Berlin und Haydns Modernität.
Herr Jacobs, seit 1992 bringen Sie regelmäßig mit Gastensembles Barockopernproduktionen Unter den Linden heraus. Nun lassen die Äußerungen Daniel Barenboims über ein Interesse der Staatskapelle an diesem Repertoire ein Ende dieser Erfolgsgeschichte befürchten.
Ich bleibe da ganz ruhig. Mit mir hat Barenboim zwar nicht geredet, aber sein künftiger Intendant Jürgen Flimm plant weiter mit mir: Wir sind jetzt schon bei der Stückauswahl für 2011 und ich bin dankbar für die bis jetzt 18 Opernproduktionen, die ich, unter idealen Bedingungen, an der Staatsoper realisieren konnte. Immerhin gehört auch diese Erfolgsgeschichte zu Barenboims Ära. Wir haben hier 1992 die erste Barockoper, Grauns „Cleopatra“ genau in dem Jahr herausgebracht, als er Generalmusikdirektor der Staatsoper wurde.
Ihr Erfolg basiert aber auch darauf, dass Sie hier mit Ensembles wie der Akademie für Alte Musik oder dem Freiburger Barockorchester arbeiten konnten.
Natürlich ist es auch eine Bestätigung für unsere Arbeit, wenn jetzt auch Sinfonieorchester wie die Staatskapelle das barocke Repertoire schätzen. Aber man darf sich nicht darüber täuschen, wie viel Zeit und Arbeit es braucht, bis ein Musiker das Vokabular der historischen Aufführungspraxis wirklich beherrscht. Und unsere Produktionen waren ja gerade deshalb so erfolgreich, weil sie musikalisch ein Niveau hatten, das an anderen deutschen Opernhäusern nicht realisierbar ist. Opernaufnahmen einiger unserer Berliner Produktionen wie Scarlattis „Griselda“, Keisers „Croesus“ und Telemanns „Orpheus“ haben weltweit Schallplattenpreise bekommen.
Könnten Sie sich denn vorstellen, auch die Staatskapelle zu dirigieren?
Das kommt auf die Voraussetzungen an – und auf das Stück. Beim Repertoire von Haydn und Mozart an bin ich gesprächsbereit. Schließlich werde ich mit dem Brüsseler Orchester in zwei Jahren auch Schuberts „Fierrabras“ machen. Aber auch da gilt, dass starke Bluttransfusionen vonseiten der historischen Aufführungspraxis nötig sind, wenn man ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielen will: Alte Hörner und Trompeten zum Beispiel, oder auch ein Konzertmeister, der den Streichern die historische Spieltechnik vermittelt.
Die Akustik der Staatsoper ist bei Wagner und Verdi problematisch. Gilt das auch für das barocke Repertoire, das ja eine ganz andere Balance zwischen Bühne und Orchestergraben braucht?
Ohne die Nachhallanlage geht es auch bei Händel nicht. Das haben wir 2008 bei „Belshazzar“ festgestellt, als wir es zum ersten Mal ohne Verstärkung versuchten. Aber das Bühnenbild spielt eine ebenso starke Rolle und bei Haydns „Orlando Paladino“ hat Regisseur Nigel Lowery dafür gesorgt, dass sehr viel Holz auf der Bühne steht. Das hilft dem Klang.
Ist ein Stück wie der „Orlando“ zu klein für die Lindenoper? In der Philharmonie, wo Harnoncourt die Oper vor kurzem präsentierte, wirkte sie jedenfalls etwas verloren.
Sicher, das Theater in Esterhaza, für das Haydn seine Opern schrieb, war sehr intim. Aber letztlich bestimmt die Größe eines Theaters nicht unbedingt die Akustik. Mein größtes Klangerlebnis hatte ich im größten Opernhaus, in dem ich je dirigiert habe. Im Teatro Colón in Buenos Aires klingt auch eine Monteverdi-Oper mit 18 Musikern im Graben einfach himmlisch.
Und im Schillertheater, in das die Lindenoper ab 2010 umzieht?
Ich habe im Schillertheater sogar schon eine Barockproduktion aufgeführt: Ein Monteverdi-Programm des Basler Theaters, das zum Theatertreffen eingeladen worden war. Von daher kann ich sagen: Die Akustik ist transparent und trocken, schließlich ist sie daraufhin abgestimmt, dass man jedes Wort verstehen sollte. Und das ist auch für Barockoper nicht das Schlechteste.
Nach dem Abgang von Intendant Peter Mussbach im vergangenen Jahr haben Sie Haydns ursprünglich geplante „Armida“ gegen den „Orlando“ ausgetauscht.
Der „Orlando“ war von Anfang an mein Favorit. Denn während die „Armida“ eine klassische Opera Seria ist, haben wir es bei diesem dramma eroicomico mit einer Mischform zu tun, bei der sich komische und ernste Elemente durchdringen. Das ist meiner Meinung auch der Grund, weshalb das Publikum lange nichts mit dieser Oper anfangen konnte. Man wollte entweder etwas Lustiges oder etwas Trauriges sehen. Erst heute, mit der Erfahrung der Postmoderne, sind wir wieder bereit zu akzeptieren, dass in Wirklichkeit oft beides parallel existiert und sich gegenseitig beeinflusst.
Wie macht sich das im Stück konkret bemerkbar?
Bei der Beschäftigung mit dem „Orlando“ habe ich lange gerätselt, weshalb Haydns Textautor zwar ein älteres, sehr lustiges Libretto als Vorlage nahm, aber ausgerechnet die lustigsten Stellen wegließ. Inzwischen glaube ich, dass diese Veränderung bewusst Raum für die tiefergehende Musik des zentralen Paares Angelica und Medoro schaffen sollte. Meine private Hypothese lautet: Der „Orlando Paladino“ ist eine freimaurerische Initiationsoper hinter der Fassade eines Volksstücks – ähnlich wie die „Zauberflöte“. Es gibt mit der Zauberin sogar eine Analogie zur Königin der Nacht, und am Ende schließen der Moslemfürst Rodomonte und der christliche Ritter Orlando Frieden und kämpfen gemeinsam für die Zivilisation. Wenn das keine Aufklärung ist!
„Orlando Paladino“ hat am heutigen Freitag Premiere. Das Gespräch führte Jörg Königsdorf.
René Jacobs, 1946 im belgischen Gent geboren und ausgebildet als Countertenor, ist einer der gefragtesten Dirigenten der Alten Musik weltweit. An der Staatsoper arbeitet Jacobs seit 1992.