Thalheimer: Das Theater und sein Kater
Die Droge Brecht: Wie Michael Thalheimer am DT Berlin den "Puntila" trockenlegt. In nicht einmal zwei Stunden abgetan – bringt Thalheimer nun das unwahrscheinliche Kunststück fertig, ein Säuferdrama so restlos auszunüchtern, dass einem der Kopf schmerzt.
Vielleicht liegt das Problem darin, dass die Theater inzwischen mit großem Fleiß Formate bedienen, ganz ähnlich wie das Fernsehen und das Radio. Der größte Teil der Spielpläne ließe sich so katalogisieren – Stücke, die nach dem Muster von Talkshows, Kochsendungen oder Politmagazinen funktionieren, also vor allem erwartbar. Die durchgestylte Bühnenwelt ist konsumentenfreundlich, aber theaterfeindlich. Sofern man Theater noch als das Medium der Andersartigkeit versteht, der körperlich-intellektuellen Herausforderung, der Überraschungung und Überwältigung.
Angesichts all der zur Biederkeit neigenden Klein-Klein-Regisseure und Format-Bediener ist Michael Thalheimer freilich ein Gigant. Seine Inszenierungen besitzen Kraft und Intelligenz, und trotz ihrer aufreizenden Kürze blitzt da ein episches Moment auf, der Wille zu einer starken Erzählung. Thalheimer vermag dem Zuschauer viel zu geben in seiner brutal-minimalistischen Ökonomie. Darunter allerdings will man keinen Theaterabend mehr erleben.
Ulrich Khuon, der neue Intendant des Deutschen Theaters, hat Michael Thalheimers Brecht-Zurichtung „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ vom Hamburger Thalia-Theater nach Berlin mitgebracht. Ein relatives Schwergewicht, verglichen mit den bisherigen Eröffnungspremieren. Sonst hat allein noch Andreas Kriegenburgs „Prinz Friedrich von Homburg“ eine akzeptable Fallhöhe.
Mit dem „Puntila“ – in nicht einmal zwei Stunden abgetan – bringt Thalheimer nun das unwahrscheinliche Kunststück fertig, ein Säuferdrama so restlos auszunüchtern, dass einem der Kopf schmerzt. Trunksucht als Geisteszustand: Brecht so dünn wie Flasche leer, möchte man mit Trappatoni ausrufen – was erlauben Khuon! Man ist hin- und hergerissen. Starker Auftritt zu Beginn. Norman Hacker steht und stiert an der Rampe, sein Gesicht ein Schlachtfeld, sein Körper verbogen zwischen Ausrufe- und Fragezeichen. Ein Leidender. Ein zerquältes bürgerliches Individuum, aussterbende Gattung. Nachher wird er die Arme ausbreiten wie der Gekreuzigte, sich übergießen mit Rotwein (oder Blut?). Aber eigentlich gibt es dieses Nachher gar nicht, es ist von Anfang an ein Endzustand erreicht.
Norman Hackers Gutsherr Puntila ist eine idealtypische Thalheimer-Figur. Ein Mensch, der unter entsetzlichem Existenz- und Erfolgsdruck steht. In alten Kategorien ausgedrückt, erledigt sich dieser Bourgeois ganz von selbst. Matti, sein Fahrer, steht bloß daneben, ohne jede innere Spannung, und schaut sich das Drama seines Herren an. Ein Zweikampf findet nicht statt. In seiner braunen Schofförslederjacke grinst Andreas Döhler gelangweilt in sich hinein, ein maulfaul-arroganter Typ, wie aus einer völlig anderen Zeit. Puntila ist gestern, Matti ist heute, ebenso Ole Lagerpuschs schlurfender Schönling von einem Attaché. Die neuen Kerle sind so schlaff, dass sie sich keinen Moment ernsthaft um Puntilas Tochter Eva streiten. Lohnt sich irgenwie nicht, Erbe hin oder her. Kann man auch verstehen: Katrin Wichmann ist ein süßes, fades, williges Geschöpf, was auch nicht weiter verwundert. In Thalheimers Kosmos hängen die Menschen jeseits aller Sinnlichkeit und Lust herum; niemand hat sie bestellt, niemand holt sie ab. Mehr Beckett als Brecht. Eine große, entsetzliche, in sich selbst rotierende Leere, wie das Bühnenbild von Henrik Ahr. Und dennoch: Thalheimers Nihilismus hat eine gewisse Magie, man kann sich diesem schwarzen Loch von einer Inszenierung so leicht nicht entziehen.
Eine Weile hält dieser negative Rausch vor, dann setzt der Kater beim Zuschauer ein. Und man fühlt sich wie Puntila, der ohne Alkohol immer nur eine halbe Welt sieht. Der im Suff nicht doppelt, sondern überhaupt erst vollständig und ganzheitlich sieht. Bertolt Brechts Dialekt der Droge ist unübertroffen. Trinken hält die Sinne zusammen. Nüchternheit bringt partielle Blindheit.
Es ist ein spezieller Theater-Kater, den man hier erlebt. Kein schlechter Abend, aber wieder nicht der Befreiungsschlag für die neue Intendanz, wie damals, als Thalheimer mit seiner „Emilia Galotti“ Ulrich Khuons Vorgänger Bernd Wilms nicht nur vor einem kompletten Fehlstart bewahrte, sondern einen Maßstab setzte. Und während sich Thalheimers Brechtsverdreher über die Runden schleppen, spielt einem die Erinnerung einen schmerzhaften Streich. Plötzlich sind sie da, die Bilder aus dem anderen Leben, aus Einar Schleefs „Puntila“-Orgie, die 1996 das Berliner Ensemble, ja die gesamte Theaterwelt erschütterte. Schleef selbst stand, über fünf Stunden lang, wie eine deutsche Eiche auf der Bühne, an der sich eine Armee von vierzig Mattis (!) kratzte. So zart in der berühmten Saunaszene, so gewaltsam beim Riesenbankett. Schleef sprengte in seinem Wahn alle Dimensionen. Das soll nur dreizehn Jahre her sein?
Man fühlt sich alt, man wehrt sich gegen die Flashbacks. Es hilft nichts. Der „Puntila“ wird selten gespielt, und Thalheimer sperrt ihn so konsequent und vernünftig gleich wieder ein, dass Schleefs Geist erwacht und durchschlägt. Einar Schleef, der Riese im Theaterhimmel, quält uns Zwerge in der Hölle der Gegenwart. Eines doch verbindet sie von fern: Beide, Schleef wie Thalheimer, haben Brecht plattgemacht, jeder auf seine Art.
Wieder am heutigen Sonntag sowie am 4., 13. und 19. November.
Rüdiger Schaper
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