Humboldt-Universität: Brunnen des Wissens
Max Dudlers Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum: Eine Hommage an die neue Bibliothek der Humboldt-Universität.
Herrlich ist der Orient
Übers Mittelmeer gedrungen;
Nur wer Hafis liebt und kennt,
Weiß, was Calderon gesungen.
(Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan, Buch der Sprüche )
Zu den schönsten architektonischen Erfindungen Indiens gehören die Ghats, die Treppenanlagen, die zu den Tempelteichen, den heiligen Seen und Flüssen hinabsteigen. In Benares sind sie kilometerlang, die Treppen säumen das Ganges-Ufer; das Leben der Pilger, die gekommen sind, um bei Sonnenaufgang in das reinigende Wasser zu tauchen oder um die Asche eines Verwandten dem Fluss zu übergeben, findet auf den Stufen dieser unübersehbar langgestreckten Treppen statt. Oft umgeben die Treppen nur einen kleinen Teich und haben vielleicht nur zehn oder zwanzig Stufen, aber stets unterscheiden sich die Ghats von den urbanen Treppenanlagen Europas, deren wesentlicher Zweck in der Verbindung von zwei verschiedenen Niveaus liegt, denn eigentlich laden sie weniger zur Bewegung als zum Verweilen ein. Man lagert sich auf ihnen und harrt dort lange aus zwischen dem Festland, das man verlassen hat, und dem Wasser, das einem zu Füßen liegt.
Die Ghats sind Ausdruck einer seelischen Verfassung, sie sind eine steingewordene Pilgerschaft. Von der Heimat hat man sich gelöst, aber das geistige Ziel kann nicht so schnell erreicht werden, man muss den rechten Augenblick dafür abpassen, mit Eifer und Willensanstrengung ist es nicht getan, und so wartet man denn geduldig zwischen den beiden Polen, schon beinahe als sei dies Warten der eigentlich anzustrebende Endzustand. Anders als in der westlichen Metaphorik ist der Prozess der Erkenntnis eben nicht mit einem Aufsteigen, dem Erklimmen einer Höhe mit weitem Rundblick verbunden, sondern mit der entgegengesetzten Bewegung, der Annäherung an den Wasserspiegel, der zum Untertauchen einlädt, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.
Als ich mich fragte, mit welcher großen Form aus der Geschichte der Architektur Max Dudlers Jacob-und-Wilhelm-GrimmZentrum vergleichbar sei, fand ich nichts Treffenderes als meine Erinnerung an die indischen Ghats, vor allem in der Ausprägung der geometrisch stilisierten Tempelteiche wie etwa in Modhera in Gujarat: eine in die Erde hineinwachsende Architektur, die den Blick hinabzieht, in das Zentrum des Wasserbeckens. Was sich in Dudlers Bibliothek von den Ghat-Anlagen unterscheidet, ist klar: Es sind nicht Treppenfluchten, die in die Tiefe führen, sondern Großstufen, Terrassen, die sich nach unten hin staffeln. Es scheint mir deshalb notwendig, dass der Besucher für den ersten Eindruck mit dem Aufzug zunächst in den sechsten Stock fährt, um den Raum von der obersten Terrasse aus zu erleben, als liege sie zu ebener Erde.
Das ganze Bild der Halle erschließt sich nur von hier aus, wo die Wolken über der Riesenglasdecke zum Greifen nah sind und sich die Landschaft der hinabsteigenden und auf der anderen Seite wieder hinaufsteigenden Terrassen weithin unter dem Betrachter ausbreitet. Im Absteigen aus der Höhe beginnt sich der Raum in seinen Berg-und-Tal-Ausmaßen allmählich zu verbergen, und wenn man auf der untersten Ebene angelangt ist, in jenem beinahe quadratischen Saal, der in der Ghat- Architektur den Ort des Wassers bezeichnete, ist man in einem geradezu intim wirkenden Raum angelangt, der die sich über ihm auftuenden himmelsweiten Dimensionen vergessen lässt. Auch dies ist übrigens eine Gemeinsamkeit mit den indischen Tempelteichen; sie liegen in ihrer Brunnentiefe am Boden der sich um sie auftürmenden Negativform einer umgekehrten Pyramide wie ein kleiner blitzender Spiegel.
Das Spiel mit der verblüffenden Verkleinerung innerhalb einer Halle, in der man glaubt, mit dem Segelflugzeug fliegen zu können, ist aber kein Manierismus, sondern von wohlüberlegter Funktionalität. So wird es dem einzelnen Leser an seinem Schreibtisch leicht, sich nicht als winziges Teil eines stillen Heeres zu fühlen, sondern in nach Menschenmaß proportionierten Räumen zu arbeiten. Aber ich bekenne, dass ich im Geheimen, als ich mich hinabsteigend der letzten, untersten Ebene näherte wie einer innersten Kammer der Einweihung, doch noch eine Steigerung erwartete, das Eintreten in eine andere Welt als auf den darüberliegenden Terrassen, etwas den indischen Tempelgewässern Vergleichbares, das eine andere Art der Wissensvermittlung möglich machte als das Aufschlagen von Büchern oder das Anklicken von Dateien.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn dort unten in dem tiefstgelegenen Karree gar keine Schreibtische stünden, sondern wie in einer Moschee Schriftgelehrte auf dem Boden säßen, um sich herum einen kleinen Kreis von Schülern, und dort mit leiser Stimme, die sich in der Halle sofort verlöre, Lehrgespräche führten, so dass die mit solcher architektonischen Kunst vorbereitete innerste Zelle dieses Buch- Heiligtums mit der flüssigsten, lebendigsten Form des Wissens und der Weitergabe dieses Wissens erfüllt wäre.
Wenn auch die imaginären Weisen und Schriftgelehrten im Herzen der Bibliothek fehlen, die ihr Wissen murmelnd den eng um sie gescharten Hörern weitergeben, ist das Element der Unmittelbarkeit und des Assoziativen, wie es die Weitergabe einer Lehre von Mund zu Ohr auszeichnet, nicht völlig abwesend in dem großen Lesesaal und den angrenzenden Magazinen. Wer seine wissenschaftliche Recherche elektronisch betreibt, rühmt gern die Blitzgeschwindigkeit, mit der die Informationen auf die bloße Eingabe einiger Stichwörter vor seine Augen purzeln. Diese Fähigkeit der Maschine, Ordnung zu machen, ist bewundernswert, aber es gibt Leser und Sucher, die auch eine ganz andere Methode nicht missen wollen.
Sie glauben daran, dass die wichtigsten Botschaften, Nachrichten, Einsichten, Entdeckungen sich nicht dem Willen des Forschers verdanken, sondern aus unvermuteten Richtungen und in unvorhergesehenen Zusammenhängen zu ihm gelangen: dass sie es sind, die ihn gesucht haben; dass er sie nicht suchen konnte, weil er von ihnen gar nichts wusste oder auch nur ahnte. Es sind jene Bücher, die in der Nachbarschaft des eigentlich gewünschten Buches gestanden haben, die enthalten, was die Entwicklung der Gedanken einen neuen Weg nehmen lässt: Man nimmt sie in die Hand, weil der Buchrücken schön aussieht oder weil im Titel ein Wort ist, das uns bezaubert, oder weil eine unwillkürliche Unlust auf das eben zuverlässig gefundene, erwartete Buch die Hand zu dessen Nachbarn lenkt. An verschiedenen Orten der Welt sind inzwischen Bibliotheken entstanden, in denen der Bestand frei zugänglich ist. Das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum gehört dazu. Die Terrassenhalle ist von einem dichten Wall von Bücherregalen auf allen Stockwerken umgeben, die den Saal nach außen hin abschirmen, aber jedem Besucher zur Verfügung stehen. Zwischen diesen Regalen lauert auf mich die Gefahr, aus ihren dichten Reihen den Weg nicht mehr zurück in den Lesesaal zu finden; jedes zweite Buch fordert gebieterisch, herausgenommen und durchblättert zu werden, unablässig entsteht aufs Neue die Überzeugung, gerade soeben auf etwas gestoßen zu sein, das die genaue Beschäftigung lohnte.
Hier stehen die langen Reihen der Real-Enzyklopädie von Ersch und Gruber, das Lexikon, mit dem Goethe gearbeitet hat, mit Stichworten, für die man wiederum ein Wörterbuch brauchte – was sind „Pupillenkommissare“, „Reichsbänke“, „Manualpantomimen“? Was ist ein „Barrierentraktat“, ein „Supranumcrar“, ein „Sabbaterweg“? Müsste man das nicht sofort klären, um sich in der Goethe-Zeit auch nur einigermaßen zurechtzufinden? Daneben stehen zwei rote Lederbände von 1910, „King Edward VII. and His Times“ mit vielen Fotografien aus Afrika, Indien und Australien, von Schlachten zwischen Schwarzen mit Speeren und indischen Soldaten mit Gewehren, dazwischen immer der König mit hervorquellenden Augen in seinem selbstsicheren satten Pomp, um den ihn sein deutscher Vetter Wilhelm II. auf so verhängnisvolle Weise beneidete – da wird die deutsche Zopfstilwelt von Ersch und Gruber in ihrer puppenhaften Zerbrechlichkeit und Ohnmacht deutlicher sichtbar als in langen Darstellungen eines „deutschen Sonderweges“.
Nicht weit davon ein abgegriffenes Werk über das Konzil von Konstantinopel – es öffnet sich auf der Seite, wo die Frage behandelt wird, ob dieses Konzil, eines der wichtigsten der Christenheit, überhaupt stattgefunden hat, wenn ja, ob es zu seiner Zeit die geringste Bedeutung gehabt habe, wenn nein, wem seine Erfindung zuzutrauen sei?
Da wird das Wissen – alles Wissen vielleicht – zu einer Hilfsgröße für das Nicht-Wissen, Wissen wird in den Dienst des Nicht-Wissens gestellt, Nicht-Wissen ist das Ziel dieses ganzen gigantischen Wissensgebäudes. Wer glaubt, etwas zu wissen, beweist damit nur, dass er noch nicht genug weiß. Aber dies ist zwischen den Bücherreihen keine Botschaft des Zynismus oder der Verzweiflung, sondern Verlockung: Auch wenn das Nicht-Wissen am Ende der weit ausgestreuten Lektüre stehen sollte, wird es sich dabei nicht um eine Leere handeln, sondern um den buntesten Reichtum, es wird ein die Seele mit Begeisterung erfüllendes Nicht-Wissen sein, das sich in immer neue Räume öffnet und ein Ende also in Wahrheit gar nicht kennt.
So wird in solchem Wandern durch das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum, durch seine Sammlungen und Terrassen vorstellbar, dass Wissen irgendwann die Möglichkeit gewinnen könnte, zu Weisheit zu werden, was gewiss fern von den Intentionen einer Universitätsbibliothek liegt, schon gar einer zeitgenössischen. Einen Weisheitsbrunnen hat Max Dudler gebaut. In seinem Bauwerk ist die Hoffnung, die sich mit dem Begriff „Bibliothek“ vor unserer Zeit der unheimlichen Buchvermehrung und Buchentwertung einmal verband, unversehens wieder zu spüren: dass eine solche Bücherakkumulation mehr enthalten könne, als was in Büchern aufgeschrieben ist.
Martin Mosebach lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main und veröffentlichte zuletzt „Stadt der wilden Hunde“ (2008). Seinen Text entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem von Milan Bulaty herausgegebenen Buch „Bibliothek“, das nächste Woche im Berlin-Verlag erscheint (110 S., 39,90 €). Es enthält weitere Texte von Jörg Baberowski, Hartmut Böhme, Max Dudler und Peter von Matt sowie Fotos von Barbara Klemm und Stefan Müller.
Martin Mosebach
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