Einstürzende Neubauten - "Lament": Blixa Bargeld: „Am Ende schreit ein Pfau: Hitler!“
Blixa Bargeld erklärt, warum Einstürzende Neubauten mit "Lament" ein Album über den Ersten Weltkrieg aufgenommen haben: Nach 392 Taktschlägen endet das große Morden mit einem Peng.
Blixa Bargeld, 1959 als Christian Emmerich in Berlin geboren, ist seit 34 Jahren Frontmann der Einstürzenden Neubauten. Mit ihrer Mischung aus Avantgarde, Punkrock und Experimenten wurde die Band international bekannt. Neubauten-Platten wie "Tabula Rasa" und "Alles wieder offen" schafften es in die Charts. Aufsehen erregte die Gruppe 2002 mit Veröffentlichungen, die als "Supporter’s Projects" von Fans finanziert wurden. Bargeld tritt auch solo auf sowie als Lyriker. Das Neubauten-Album "Lament" wird am Samstag in der flandrischen Stadt Diksmuide uraufgeführt, die im Ersten Weltkrieg vollständig zerstört wurde. In Berlin wird es am 11. November im Tempodrom vorgestellt.
Herr Bargeld, wie kam es zur Neubauten-Platte „Lament“?
„Lament“ ist eine Auftragsarbeit für die Region Flandern, für den Auftakt einer Veranstaltungsreihe zum Thema „100 Jahre Erster Weltkrieg in der belgischen Stadt Diksmuide“. Wir wurden mit einem Performancekonzert beauftragt – so muss man auch die Platte verstehen. Sie ist für die Bühne, wir haben in allen Kompositionen das Visuelle mitgedacht. Ich würde es nicht als Neubauten-Album bezeichnen. Aber vor allem sollte es nicht didaktisch sein, was manchmal schwer war – historische Inhalte zu vermitteln, ohne oberlehrerhaft zu wirken.
Wurden deshalb vor allem obskurere Fakten aus dem Ersten Weltkrieg verarbeitet?
Ja, ich habe natürlich erwartet, dass ganz Europa – bis auf Italien, die fangen erst nächstes Jahr an – unter dem Eindruck des Jubiläums stehen wird, und wollte Pfade finden, die nicht so ausgetreten waren. So wie die Geschichte der Harlem Hell Fighters, des ersten farbigen US-Regiments, das nebenbei Jazz machte.
Wie sah die Recherche aus?
Es gibt kaum Tondokumente aus dem Ersten Weltkrieg. Sogar die Fernsehdokus sind auf der Tonebene Fake. Was es gibt – und damit haben wir gearbeitet –, stammt aus dem Lautarchiv der Humboldt-Uni und dem ehemaligen Musikethnologischen Institut in Dahlem: Edison-Wachszylinder. Darauf sind Gefangenenstimmen verewigt. Man hatte die Gefangenen damals systematisch „Wernicke-Sätze“ sagen lassen, linguistische, leicht surrealistisch anmutende Beispielsätze, so wie „Das rote Pferd steht auf der Wiese“.
Um Sprachklänge zu archivieren?
Ja, und um die verschiedensten Sprachmodulationen erforschen zu können. Und man hat sie die Geschichte vom verlorenen Sohn vorlesen lassen, wahrscheinlich weil es die Bibel in so vielen Übersetzungen gibt. Das traf sich wunderbar damit, dass in Diksmuide ein flämischer Renaissancekomponist begraben liegt, der eine Motette mit dem Titel „Pater Peccavi“, also der verlorene Sohn, geschrieben hatte. Ich konnte nicht widerstehen, diese beiden Dinge zusammenzupacken, den Renaissancekünstler und die Wachszylinder.
Diente das Kaprizieren auf das Obskure auch einer künstlerischen Entfremdung?
Das war teilweise gar nicht nötig: Zum Beispiel wird auf diesen Wachszylindern nicht ein Wort über den Krieg verloren. Vielleicht durften die Gefangenen auch nichts erzählen. Wir spielen die Zylinder live auf der Bühne ab, mit kleinen Lautsprechern, und behandeln sie wie rohe Eier. Denn meiner Ansicht nach darf man dieses Material nicht geschmacklich evaluieren.
Darf man sich denn als Künstler nicht von historischen Wahrheiten entfernen?
Der historische Aspekt ist ja ohnehin gegeben. Aber es gab diese Kritik auch innerhalb der Band: Müssen wir nicht etwas über Tote, über das Leid machen? Im letzten Jahr habe ich mit meinem Freund Nick Cave an einer Dokumentation über ihn, „20 000 Days on Earth“, mitgearbeitet. Bei den Dreharbeiten in Brighton sah ich, dass Nick ein Buch über den Ersten Weltkrieg las. Es stellte sich heraus, dass er ebenfalls eine Auftragskomposition schreiben soll! Aber: Er schreibt Vignetten für einen Komponisten, die heißen zum Beispiel „Der Verwundete“, „Die trauernde Witwe“, „Der Invalide“, alles ohne historische Aspekte. Er macht quasi das Gegenteil von uns!
Woher haben Sie diesen Joseph Plaut, der den Beginn des Weltkriegs mit Tierstimmen nachstellte?
Irre, oder? Aus dem deutschen Rundfunkarchiv. Ich hatte mir ein ganzes Konvolut schicken lassen, eine Menge war sehr ekelhaft, aber plötzlich stieß ich auf diesen Kabarettisten, der ein Stück für einen Tierstimmenimitator geschrieben hat, der den Ausbruch des Kriegs beschreibt. Und am Ende schreit ein Pfau „Hitler!“ – das war 1926!
In welcher Sprache waren die „Willy-Nicky-Telegramme“ verfasst, diese unglaubliche Vorkriegskorrespondenz zwischen Kaiser Wilhelm II. und Zar Nikolaus II., die Sie auf der Platte gemeinsam mit Alex Hacke in Englisch rezitieren?
Auf Deutsch vermutlich, das waren Cousins, Nicky sprach auf jeden Fall Deutsch. Nach dem Weltkrieg wurde eine Art Rechtfertigungsbuch auf Deutsch nur mit den Willy-Briefen veröffentlicht, um die Schuld der Deutschen am Krieg weißzuwaschen, das hatte ich mir antiquarisch besorgt. Die gesamte Korrespondenz habe ich nur auf Englisch gefunden. Das Gruselige ist, wie hinter Nicky die Generäle stehen, die den Krieg längst beschlossen haben. Es gab eine Allianz aus drei Mächten, die Konstantinopel erobern wollte. Der Kampf auf Gallipoli wurde eine der blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs. Viele Australier haben mitgekämpft, Mick Harveys (Gitarrist der Bad Seeds) Opa hat da ein Bein verloren.
",How I Did Die' musste mit auf die Platte, etwas sehr Persönliches."
Sie haben Ihre Stimmen für diese Interpretation elektronisch verfremdet ...
Mit Autotune, das ist bei Pop- und Hip-Hop-Produktionen sehr beliebt. Es verschiebt die Stimmlage auf einen Ton, der wirklich in der Tonart vorkommt, und der Eindruck des doppelten Bodens verstärkt sich: Man denkt, es ist immer etwas anderes gemeint, als gesagt wird. Übrigens ist die erste Kadenz bei „Nicky“ die gleiche wie bei „Sympathy for the Devil“ von den Rolling Stones.
Passt doch.
Ist ja auch alles überlegt!
Das gilt auch für die sehr lange „Percussion Version“, in der auf Plastikrohren getrommelt wird, die verschiedene Länder repräsentieren, und bei der ein Schlag einen Kriegstag darstellt.
Der Krieg endet in der Version nach 392 Schlägen mit einem einzigen Peng. Das haben wir alles akribisch ausgerechnet, das ist quasi statistische Musik. Wir haben kleine Fähnchen auf die Rohre geklebt, einer spielt die Mittelmächte, einer spielt die anderen, und Alex wollte, dass die Schlachtfelder von Frauen gesprochen wurden. Meine Haushälterin hat die italienischen Namen gesprochen, meine flämische Trainerin die flämischen Namen, meine Frau Erin spricht das einzige chinesische Schlachtfeld.
Hat sich Ihr persönliches Verhältnis zum Ersten Weltkrieg verändert?
Ich hatte gar keins. Aber sich über Monate mit diesem Material zu beschäftigen, hat natürlich eine Wirkung, und es hat meine Stimmung nicht gerade gehoben. Bis ins letzte Drittel dieser Arbeit hatte ich mich zum Thema Tod zurückgehalten. Aber dann merkte ich, dass „How Did I Die“ mit auf die Platte musste, das Persönlichste, das ich beigesteuert habe.
Und das basiert als einziges Stück nicht auf historischen Fakten.
Genau, das war bis kurz vor Schluss nur ein Stück über den Tod, komponiert als Pianokadenz, schwer zu begleiten wegen einer schwierigen Akkordstruktur. Aber irgendwann wusste ich, dass es eine Wendung zum Ende hin geben musste, wie bei „Die Rote Melodie“ von Kurt Tucholsky, da kommen die Toten zurück, er hat das sehr geschickt gemacht. Darum heißt es auch am Ende: We didn’t die.
Und was ist der „Kriegszitterer“, den N.U. Unruh in „Hinterland“ spielt?
So nannte man traumatisierte Soldaten, die nach tagelangem Bombenhagel an der Front nur noch zitterten. Erst dachte man, das sind Simulanten, und behandelte sie mit Elektroschocks. Mein Wunsch war, dass Andrew beim Spielen unkontrolliert mit dem Bein wackelt, die percussive Umsetzung eines Bombentraumas. Sowohl das Stück mit dem „Kriegszitterer“ als auch das mit der „Stacheldrahtharfe“ haben Texte von Paul van den Broeck. Es gibt auch amplifizierte Krücken, also mit Verstärker, bei denen man jeden Schritt hört.
Und wie passt „Sag mir, wo die Blumen sind“ in das Konzept?
Ich liebe dieses Stück und Marlene Dietrich. Rudolf schlug vor, es noch mal zu versuchen, und in der A-capella-Version wurde es erträglich. Im Booklet ist ein Bild von Marlene Dietrichs Schwanendaunenmantel, den ich mir postmodern habe interpretieren lassen, aus Papier! In diesem Mantel singe ich das Stück.
Die Kriegsbeteiligten sind tot. Was meinen Sie: Würden sie Ihre Platte ablehnen?
Vielleicht. Aber ich bin ja in der Grauzone zwischen Avantgarde und Entertainment tätig. Ich möchte nichts Langweiliges in die Welt setzen, keine reine Belehrung, keine Horrorshow, sondern es soll unterhalten. Frei nach Tom Waits: You have to tell a horrible story beautiful. Das war unser Weg.
Das Album "Lament" der Einstürzenden Neubauten erscheint diese Woche bei Mute. Am 11. November tritt die Band damit im Tempodrom auf.
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