Kultur: Black Box Africa
Liberias Bevölkerung ersehnt ein Eingreifen der USA. Denn die Kinder der befreiten Sklaven sind wieder zu Sklaven geworden. Ein Bericht aus dem Herz der Finsternis
„Letzte Dose Biskuits, letzte Büchse Milch, letztes Stück Brot“, schrieb der junge Graham Greene 1935 in sein Tagebuch, als er im liberianischen Urwald, von Fieber geschüttelt, in seinem Zelt darnieder lag: „Letzte Nacht habe ich eine Entdeckung gemacht. Ich habe entdeckt, wie sehr ich am Leben hänge. Vorher hatte ich geglaubt, der Tod sei wünschenswert.“
Die Konfrontation mit dem eigenen Tod, die der Autor in seinem frühen Roman „Journey without Maps“ geschildert hat, gehört heute zum Alltag Liberias, ebenso wie Hunger, Schwarzwasserfieber und Malaria, zu der sich in der von Rebellen belagerten Hauptstadt auch noch die Cholera gesellt. Aber anders als bei Graham Greene geht es nicht um eine Mutprobe oder um ein selbst auferlegtes Martyrium: Liberias Bevölkerung hat ihr Schicksal nicht selbst gewählt, sie ist Opfer eines seit zwölf Jahren andauernden Bürgerkriegs, der vom Klassenkampf zum Stammeskrieg degeneriert ist und unvorstellbar bestialische Formen angenommen hat.
„Why not?“, antwortete mir ein Kindersoldat auf den Straßen Monrovias auf die Frage, warum er seine afrikanischen Brüder und Schwester abschlachte – warum eigentlich nicht? Das war 1996, bei meinem zweiten Besuch in Liberia, und schon damals hatte der Krieg die Prognose, er werde nicht durch Sieg oder Niederlage enden, sondern durch Blutverlust und allgemeine Erschöpfung, als frommen Wunsch entlarvt. Liberia gleicht einer nach unten offenen Richterskala, einem schwarzen Loch, das ganz Westafrika in seinem Sog zu verschlingen droht, aus dem es für die einheimische Bevölkerung, anders als für den Tropenreisenden Graham Greene, kein Entrinnen gibt.
Die Nachbarländer nehmen keine liberianischen Flüchtlinge mehr auf, nachdem der Krieg das angrenzende Sierra Leone verwüstet und die Elfenbeinküste destabilisiert hat, die durch französische Truppenpräsenz vor dem Zerfall geschützt zu sein schien. Und die aus Westafrika entsandten Friedenstruppen gossen Öl ins Feuer, statt die Kampfhähne zu trennen – und nahmen selbst an Plünderungen und Ausschreitungen teil: allen voran die Nigerianer, die Container voll Raubgut – Kühlschränke, Fernseher, Autos und Motorräder – in ihre Schiffe luden. Zwar stehen die Soldaten aus Ghana in besserem Ruf, aber das Kürzel der westafrikanischen Staatengemeinschaft Ecomog wurde in Monrovia zum Synonym für „Every car and moveable object gone“ (Jedes Auto und bewegliche Objekt gestohlen), so wie Liberias Volksmund die selbst ernannten „freedom fighters“ als „freedom killers“ bezeichnet.
Ob diese auf Seiten von Präsident Charles Taylors NPFL (National Patriotic Front of Liberia) kämpfen oder in der Rebellenbewegung LURD (Liberians United for Reconciliation and Democracy), spielt keine Rolle; die Namen sind so austauschbar wie die politischen Programme, da das Plündern und Morden zum Selbstzweck geworden ist und der Krieg sich durch die illegale Ausfuhr von Diamanten und Tropenholz selbst finanziert. Das liberianische Modell ist exportfähig, denn in Afrika herrscht kein Mangel an Kindern, die nach der Ermordung ihrer Eltern zwangsrekrutiert, sexuell versklavt oder unter Drogen gesetzt werden, um als Kanonenfutter zu dienen – und das Schüren von Stammesrivalitäten ist für Demagogen ein Kinderspiel. Das Ergebnis: Schon 1996 waren 150000 von 2,5 Millionen Liberianern ermordet und 300000 auf der Flucht; seither wird die Zahl sich verdoppelt haben. Ein Genozid.
Die Ironie der Geschichte ist, dass Liberia, ähnlich wie das benachbarte Sierra Leone, lange als Hort der Stabilität im postkolonialen Afrika galt. Beide Staaten waren nie Kolonien, sondern sind Ergebnisse eines bevölkerungspolitischen Experiments. Im frühen 19. Jahrhundert kauften Gegner des Sklavenhandels, Philanthropen aus England und den USA, afrikanische Sklaven frei und schafften sie auf eigene Kosten in ihre mutmaßliche Heimat zurück. Dort tauschten sie Tabak und Branntwein, Schießpulver und Textilien gegen Land, auf dem sich die Rückwanderer niederließen. Was dann geschah, passt weniger zu dem idyllisch geschönten Afrika-Bild, das die Fernsehserie „Roots“ (und Alex Haleys Roman) entwirft, als zu einem bösen Lehrstück von Brecht. Die ehemaligen Sklaven bildeten eine neue Oberschicht, die im Namen des Christentums die ortsansässige Bevölkerung unterjochte und selbst Sklavenhandel trieb – als lukratives Geschäft. Der politische Kitt, der die Einwanderer zusammenhielt und von den Einheimischen abgrenzte, war die True Whig (We hope in God) Party, deren Hauptquartier, ein Freimaurertempel im Zentrum Monrovias, seit der Ermordung des demokratisch gewählten Präsidenten Tolbert als öffentliche Toilette dient.
1980 ergriff der Feldwebel Samuel Doe in einem blutigen Putsch die Macht, nachdem er Tolbert im Bett zerstückelt hatte, und besetzte alle Schlüsselpositionen in Regierung und Armee mit Angehörigen seiner Volksgruppe, der Krahn. Dieser Putsch einer ethnischen Minderheit öffnete dem Tribalismus Tür und Tor und brachte Liberias wackliges Staatsgefüge zum Einsturz. Samuel Doe ging seinen Gegnern in die Falle und wurde vor laufender Kamera zu Tode gefoltert. Bei meinem ersten Liberia-Besuch war die Videokassette mit der Tötung des Staatschefs ein Bestseller: Die Szene, in der seine Peiniger Doe zwingen, seine abgeschnittenen Ohren zu essen, wurde von Zuschauern mit Beifall und Gelächter quittiert.
Damals dachte ich, es könne nicht schlimmer kommen, aber die Karriere von Charles Taylor, dessen Soldaten abgehackte Köpfe auf die Straße legen, um Autos zum Halten zu veranlassen, hat jeden eines Schlechteren belehrt. Zuvor hatte Taylor sich mit unterschlagenen Geldern ins Ausland abgesetzt und war nach der Flucht aus einem US-Gefängnis als Warlord nach Liberia zurückgekehrt. Jetzt steht er selbst vor dem Aus, und die Gräueltaten der LURD stehen denen der NPFL um nichts nach: Abgeschnittene Köpfe werden, zu makabren Stillleben gruppiert, vor TV-Kameras zur Schau gestellt.
600 Menschen, die den Kämpfen um Monrovia diese Woche zum Opfer fielen, und tausende Verwundete hätten bewahrt werden können, wenn George W. Bush sein in Afrika gegebenes Versprechen erfüllt und US-Marines nach Monrovia geschickt hätte. Sein Zögern ist durch das Trauma von Mogadischu motiviert, wo tote GIs im Triumph durch die Straßen geschleift wurden. Doch Liberia ist nicht Somalia; alle Bürgerkriegsparteien sympathisieren mit den USA, deren Intervention die Kämpfe schlagartig zum Erliegen bringen würde, und anders als in Irak oder Afghanistan haben schlecht bewaffnete Kindersoldaten keine Chance gegen eine professionelle Armee. Außer dem Abschlachten wehrloser Zivilisten haben sie nichts gelernt, und Liberias Volksmund sagt, das einzige Ziel, das sie treffen, sei das Meer.
Ich war selbst in Monrovia, als die US-Navy im April 1996 alle Ausländer aus Liberia evakuierte und durch ihre bloße Präsenz, ohne einen Schuss abzufeuern, der Bevölkerung eine Atempause verschaffte. „Das Leiden der Menschen hier geht mir sehr nah“, sagte damals Colonel Forbush als Kommandeur der Marines, „aber ich habe kein Mandat, in die Kämpfe einzugreifen. Dies ist eine politische Entscheidung, die Washington treffen muss!"
Auch wenn das so genannte Nation Building in Liberia mit Fragezeichen zu versehen ist: Die Rettung der Menschen hätte Vorrang vor allen anderen Überlegungen – in einem Staat, der mit amerikanischer Hilfe geschaffen wurde und dessen Hauptstadt den Namen von US-Präsident Monroe trägt. Bushs Entschuldigung für das historische Verbrechen der Sklaverei ist wenig wert, wenn er seinen Worten keine Taten folgen lässt.
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