Kultur: Bitten, Bücher, kleine Gaben
Cornelia Froboess liest am Berliner Ensemble Briefe Lilli Jahns
Eine junge Frau, das dunkle Haar im Nacken, über dem faltenreichen Seidenkleid, zu einem Knoten gebunden – die Fotografie im altmodischen Chamois-Ton des Entstehungsjahres 1918 schimmert, riesenhaft vergrößert, im Hintergrund der Bühne. Den Kopf nach links gewandt, scheint es, als strebe die Frau davon, hinweg in die Tiefe des Raumes. Ein sanfter Zwang indes hält sie fest, holt sie aus der Vergangenheit, die ihr ein schweres Schicksal bereiten wird, zurück in die Gegenwart.
Eine Frau von heute, die Schauspielerin Cornelia Froboess, tritt unter der Fotografie in ein fahles Licht und lässt ihre Stimme halblaut, wie von fern, aus dem Off ertönen. Wir hören von Sehnsucht nach dem Zuhause, von trockenem Brot, von Anstaltskleidung – Cornelia Froboess hält den vom 3. Oktober 1943 datierten Brief, aus dem da vorgetragen wird, in gesenkter Hand. Die Distanz zwischen den Zeiten will noch überwunden werden. Erst als Peter Fitz, links an der Rampe zwischen Schiefertafel und Pult, die Rolle des Chronisten und Kommentators übernimmt, greift auch seine Kollegin zu ihren Papieren und liest vor, was Lilli Jahn, Tochter aus großbürgerlich-jüdischem Elternhaus, geschrieben hat.
Das Berliner Ensemble präsentiert in szenischer Lesung ein Buch, das, kürzlich erschienen, rasch Aufmerksamkeit gefunden hat: „Mein verwundetes Herz – Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944“. Der „Spiegel“-Redakteur Martin Doerry, ein Enkel Lilli Jahns, wertet darin ein Konvolut von rund 250 Briefen aus, die Lillis Kinder 1943/44 an ihre damals im Arbeitserziehungslager Breitenau bei Kassel inhaftierte Mutter schickten. Vor ihrer Deportation nach Auschwitz gelang es Lilli, die Briefe hinauszuschmuggeln und wenigstens sie vor der Vernichtung zu bewahren. Sie fanden sich im Oktober 1998 im Nachlass ihres Sohnes Gerhard Jahn wieder, Bundesjustizminister im Kabinett Willy Brandts. Zusammen mit den Briefen, die Lilli selbst an ihre fünf Kinder schrieb, ergibt sich das bewegend authentische Bild vom vergeblichen Überlebenskampf einer jüdischen Frau, die, verheiratet mit einem Protestanten, 1942 von ihm verlassen worden war. Schon ihr nsschild an der Haustür, „Dr. med. Lilli Jahn“, genügte zur Denunziation: Lilli hatte versäumt, den allen Juden aberkannten Doktortitel zu streichen, andererseits ihrem Vornamen das zwangsweise verordnete „Sara“ hinzuzufügen.
Cornelia Froboess vertritt Lillis Sache, die zugleich die ihrer Kinder ist, mit Festigkeit, ohne Larmoyanz; sie lässt das Bemühen spüren, mit ihren Berichten aus der Haft den Sohn und seine Schwestern nicht über Gebühr zu belasten. Bitten, ihr kleine Gaben, Lebensmittel, Lesestoff, zukommen zu lassen, wechseln mit herzlicher Anteilnahme am Alltag der Kinder. Henning Hartmann, Annika Kuhl und ihre Generationsgenossen zeigen ihrerseits umso mehr jugendliches Temperament, indem sie sich mit ihren Briefen enthusiastisch identifizieren. Ein erster Eindruck, Claus Peymanns Regie lasse sie dabei allzu naiv erscheinen, ist zu revidieren: In der Tat gilt es hier deutlich zu machen, dass es ganz junge Menschen waren, 16, 14, 13 Jahre alt, die diese von dem Willen zu praktischer Fürsorge erfüllten Briefe geschrieben haben - frühe, sehr frühe Reifezeugnisse. Günther Grack
Noch einmal am 24. November, 11 Uhr.
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