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© Lars von Törne

Interview: „Bilder von Küssenden waren verboten“

Der chinesische Comiczeichner Benjamin über die Ausdrucksmöglichkeiten in seinem Land – und über die Schwierigkeiten, als Künstler in der sich radikal ändernden Volksrepublik seinen eigenen Weg zu gehen

Tagesspiegel: In Deutschland weiß man nur sehr wenig über die chinesische Comicszene. Welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten aktuellen Entwicklungen?

Benjamin: In meiner Generation ist man vor allem mit japanischen Manga aufgewachsen, die als Raubkopien bei uns kursierten. Als ich Teenager war, haben die uns sehr stark beeinflusst. Wir hatten rund um die Schule viele Läden, wo es die Hefte inoffiziell zu kaufen gab. Aber dann hat die chinesische Regierung zunehmend versucht, den Markt zu kontrollieren und es gab immer weniger Manga zu kaufen. Denn für die offiziellen Importe braucht man eine Zulassung der Regierung, das hat den Austausch stark eingeschränkt.

Und hat die chinesische Regierung im Gegenzug inländische Künstler motiviert oder gefördert, eigene chinesische Comics zu produzieren?

Ja, die chinesische Regierung hat damals fünf großen Verlagen die Aufgabe gegeben, eigene Comics zu entwickeln. Aber das sollten moralisch wertvolle Comics für ganz junge Leser sein…

Wie fanden Sie als Künstler, der sich mit seinen Arbeiten eher an ältere Leser richtet, diese Comics?

Ziemlich langweilig. Das waren Propagandacomics der Regierung. Und sie waren für kleine Kinder gemacht. Für uns Ältere war das wenig interessant. Auch weil die Verantwortlichen im Kulturministerium keine Ahnung von Comics hatten. Die meisten dieser Projekte sind auch nicht lange fortgesetzt worden.

Haben Sie als Comiczeichner denn auch mal Unterstützung der Regierung erhalten?

Nein, ich mache das alles auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko, ohne irgendwelche staatliche Hilfe. Ich habe aber einen Verlag, der sich für mich um die Lizenzen für meine Veröffentlichungen kümmert, was eine große Erleichterung ist, da das ein sehr komplizierter Prozess ist.

Diese offiziellen Comics hatten bestimmt mit den Geschichten nichts zu tun, die Sie in Ihren Arbeiten erzählen.

Sie sprechen in Ihren Büchern ja von jugendlichem Aufbegehren gegen die alte Ordnung, von Orientierungslosigkeit und Alkoholproblemen. Gibt es Ihre Arbeiten ganz regulär in China zu kaufen?

Ja, bis auf dieses eine hier, „Orange“, sind alle meine Bücher in China erhältlich.

In diesem Buch steht ja wie in vielen Ihrer Geschichten der Kampf junger Menschen um einen Platz in der Gesellschaft im Vordergrund, es geht um die Reibungen zwischen Tradition und Moderne. Ist das immer noch ein wichtiges Thema in Ihrem Alltag?

Das ändert sich langsam. Als ich anfing, hatten wir in meinem Verlag heftige Diskussionen, weil meine Kollegen dort älter als ich waren, vieles anders sahen und meine Arbeit nicht verstanden. Inzwischen bin ich zehn Jahre älter, jetzt nehme ich mehr Rücksicht, und die ältere Generation hat sich modernisiert und akzeptiert andere Sichtweisen mehr. So durfte man früher zum Beispiel keine Bilder von sich küssenden oder schmusenden Menschen zeigen, das war total verboten. Heute wird das nicht mehr so streng gesehen.

Und was ist das Problem mit diesem Buch, „Orange“?

Ich zeige es Ihnen: Es liegt an dieser Seite hier, auf der ich ein Mädchen und einen Jungen in einer Umarmung zeige – und dabei ist die Unterwäsche des Mädchens zu sehen. Das hält der Verlag für nicht akzeptabel.

Es geht also eher um moralische als um politische Grenzen?

Genau. Nacktszenen und ähnliches sind verboten, auch unter dem Aspekt des Jugendschutzes.

Und überlegen Sie jetzt, diese Szene zu ändern, um Ihr Buch doch noch in China veröffentlicht zu bekommen?

Ja, darüber diskutiere ich mit meinem Verlag schon seit sechs Jahren.

Noch bleibe ich stark, aber ich will andererseits, dass das Buch veröffentlicht wird, solange ich noch lebe. Ich bin kurz davor, die Szene zu ändern – lieber ein Bild rausnehmen oder umzeichnen, als ein Buch nie veröffentlicht zu sehen.

In einem Ihrer Bücher gibt es eine Szene, in der der Verleger dem Künstler sagt: Schreib Geschichten, die genau wie die japanischen Teenager-Manga sind, die sich gut verkaufen, also harmlose Liebesgeschichten für Mädchen, bloß keine Probleme. Das sieht aus wie eine Szene, die Sie selbst erlebt haben…

Ja, auf jeden Fall. In den großen Verlagen gibt es genaue Regeln, welche Geschichten sich verkaufen. Je einfacher und je romantischer die Geschichte, desto weniger Probleme für den Chef. Das ist allerdings in Japan oft auch nicht anders: Die Redakteure in den Verlagen machen genaue Vorgaben, was sich verlauft und sagen dem Künstler, was er tun soll, bevor er seine eigenen Ideen entwickeln kann.

Ihr Stil wirkt teilweise hyperrealistisch und hat etwas von am Computer bearbeiteten Fotografien. Wieviel ist davon handgemacht?

Alles. Die Bilder zeichne ich komplett mit der Hand am Computer, ich benutze keine Fotos als Grundlage. Das habe ich vor ein paar Jahren mal gemacht, da habe ich Fotos mit anderen Techniken kombiniert, aber es wirkte zu wenig lebendig, zu perfekt, zu glatt. Da fehlte das Gefühl. Jetzt zeichne ich wieder alles selbst auf einem Zeichenboard, das direkt mit dem Computer verbunden ist. Ich gebe mir viel Mühe, die Figuren sehr realistisch zu zeichnen, aber es ist alles Handarbeit!

Ein Thema, das in vielen Ihrer Geschichten auftaucht, ist Rockmusik. Welche Bedeutung spielt die im Alltag junger Chinesen?

Es gibt viele junge Leute, die Rockmusik lieben. Es gibt auch einige chinesische Künstler, die sehr gut sind. Das Problem ist, dass es kaum einen Markt gibt. Es reicht nicht zum Überleben. Was sich gut verkauft, ist eine Mischung aus traditioneller und moderner Unterhaltungsmusik, die ist aber eher langweilig. Rockmusik ist was anderes, das ist eher etwas für junge Leute aus dem Künstlerbereich. Geld verdienen kann man damit aber kaum.

Ich habe vor ein paar Jahren mal einen großen Roman geschrieben über Rockmusik, der wurde mehr als 100.000-mal verkauft. Das klingt für Sie in Deutschland vielleicht nach einem Erfolg, aber 100.000 Auflage in China sind nicht sehr viel.

Wie Sie in Ihren Arbeiten die Gesten Rockmusi
k mit der Suche junger Menschen nach einem Aufbruch, nach einem besseren Leben beschreiben, hat etwas Rebellisches, das an den kulturellen und sozialen Aufbruch junger Menschen im Westen in den 1960er Jahren erinnert. Fühlen Sie sich als Rebell?

Nein, ich würde mich und meine Generation eher als Verunsicherte beschreiben. Uns prägt ein Gefühl der Unsicherheit, der Verlorenheit. Rebellieren bedeutet ja auch Wut, Mut und Kraft. Wir fühlen uns eher verloren, haben keine Zukunft vor Augen, haben Angst vor der Zukunft. Zur Rebellion haben wir nicht genug Mut, nicht genug Kraft. Es geht nur noch ums Geldverdienen im Alltag. Vertrauen, Glauben, Moral – all das bedeutet nicht mehr viel. Das Problem meiner Generation ist: Wir haben keine Träume mehr. Und die traditionellen Werte wie Ehrlichkeit, Barmherzigkeit, Vertrauen haben auch an Bedeutung verloren. Stattdessen sind materielle Ziele das einzige, worum es heute dank der Wirtschaftsreform und der Öffnung der Märkte noch geht.

Das klingt nach einem schwierigen Balanceakt für Sie als Künstler, sich Ihre Träume zu bewahren und trotzdem genug Geld zum Leben zu verdienen.

Ja, das ist ein Problem für alle Künstler und Autoren meiner Generation. Denn in China gibt es keine Sozialhilfe oder etwas ähnliches, so wie bei Ihnen im Westen. Das heißt, jeder ist gezwungen, sich um sich selbst zu kümmern. Das setzt jeden Künstler unter großen Druck, ob man morgen genug zum Essen hat und sich eine Wohnung leisten kann. Deswegen ist auch unter Künstlern für viele das einzige Ziel, schnell berühmt zu werden und viel Geld zu verdienen. Ich versuche, die Balance zu halten, indem ich einerseits Werbung mache, Illustrationen und andere Auftragsarbeiten, die Geld bringen. Und andererseits mache ich eben meine eigenen Sachen.

Das Gespräch führte Lars von Törne.

Benjamins Bücher erscheinen auf Deutsch bei Tokyopop, mehr dazu unter diesem Link. Einen guten Einblick in die aktuelle chinesische Comicszene gibt auch der kürzlich bei Tokyopop erschienene Band: "Peking - Zehn Gesichter einer Stadt". Mehr dazu unter diesem Link.  

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