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Gitarrist Thomas (l-r), Gitarrist Ethan, Bassistin Victoria und Sänger Damiano und von der Band ·Maneskin· (Italien) freuen sich nach dem Gewinn des Eurovision Song Contest (ESC) während eines Photocalls.
© Soeren Stache/dpa

Nerdpop, Chanson, Techno: Berghain-Kids mit Rock'n'Roll-Sound gewinnen ESC

Die Gewinner des 65. Eurovision Songcontests stehen fest. Unterschiedlicher könnten die Top 3 nicht sein.

Als die Kamera über die Sofanischen der Länderteams schwenkt und alle zu jubeln beginnen, schauen die Mitglieder der italienischen Band Måneskin gelangweilt auf ihre Handys. Keine dreißig Minuten später sind die vier Schulfreund:innen in ihren Berghain-Outfits aber wieder voll präsent, rennen tränenüberströmt auf die Bühne.

Sänger Damiano David ruft: „Rock 'n' Roll never dies“ und formt sogar mit den Händen ein Herz, dann legen sie los und spielen ein zweites Mal an diesem Abend ihren Song: „Zitti E Buoni“, auf Deutsch: „still und fügsam“. Es ist ein aufmüpfiger Song, die Gruppe fordert mehr Respekt von Älteren, ruft dazu auf, unkonventionell, ausgeflippt und alternativ zu leben.

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Dass Rock 'n' Roll 2021 so ein Ding ist, hätte man jetzt vielleicht nicht gedacht. Doch Europa hat entschieden, ziemlich eindeutig sogar. Mit gewaltigem Vorsprung wurde Italien Sonntagnacht vom Publikum zum Gewinner des 65. Eurovision Song Contests in Rotterdam gekürt. Dabei sah es erst mal gar nicht danach aus.

Die europäischen Jurys hatten den Kandidaten der Schweiz, Gjon’s Tears, mit Punkten überhäuft. Der 21-Jährige hat klassischen Gesang studiert und überzeugte die Profis mit einer zarten Kopfstimmen-Ballade. Doch für die Zuschauer:innen fehlte wohl das Drumherum, sodass Gjon’s Tears schließlich doch nur auf dem dritten Platz landete.

Der für Deutschland angetretene Jendrik Sigwart konnte dagegen weder die Zuschauer:innen noch die Jurys für sich gewinnen. Der 26-Jährige performte auf der Bühne einen Anti-Hass-Song. Der Auftritt strotzte vor guter Laune und schien dennoch hoffnungslos: Jendrik spielte auf einer glitzernden Ukulele, eine der Tänzerin trug ein Ganzkörper-Peacezeichen-Kostüm.

Keinen einzigen Punkt gab es vom Publikum. Dafür immerhin drei von den Länderjurys. Der vorletzte Platz ist aber nichts Neues für Deutschland - bereits vor zwei, vier, fünf und sechs Jahren war es ähnlich miserabel ausgegangen. Das schlechte Abschneiden schien der Hamburger gelassen zu nehmen, er hatte bereits im Tagesspiegel-Interview angekündigt, dass er auch mit dem letzten Platz zufrieden wäre.

Stattdessen tröstete er am späteren Abend die Vertreter:innen Spaniens, Großbritannien und der Niederlande, die ebenfalls keinen einzigen Publikumspunkt erhalten hatten. Die Briten blieben sogar beim Jury-Ranking punktlos und besetzten den letzten Platz. Für Sänger James Newman folgte trotzdem tosender Applaus.

Viel weiter vorne, auf Platz, zwei landete die Vertreterin für Frankreich, Barbara Pravi, mit ihrem Chanson „Voilà“. Die 27-Jährige wurde ebenso wie Måneskin bereits im Vorfeld als Favoritin gehandelt. Ihr Auftritt war stimmgewaltig, adrett und frech zugleich.

Kaum noch typische ESC-Balladen

Insgesamt nahmen 39 Länder teil. 13 Beiträge wurden in den beiden Halbfinals am Dienstag und Donnerstag aussortiert. Die Zuschauer:innen konnten wie immer über die Sieger:innen abstimmen, jedoch nicht für das eigene Land. Die andere Hälfte der Punkte kam von nationalen Fachjurys. Nach der Pandemie bedingten Absage 2020 waren am Samstagabend rund 3500 negativ getestete Zuschauer:innen in der Ahoy Arena in Rotterdam live dabei.

Eine so große Veranstaltung, selbst wenn man sie nur im Fernsehen guckt, wirkt mittlerweile richtig ungewohnt, so viel Publikum hat man lange nicht gesehen. Kurz kommt da das Gefühl auf, die Pandemie sei vorbei oder nur ein schlechter Traum gewesen, doch spätestens als die isländische Band nicht live, sondern per eingespieltem Video auftritt, ist klar, dass dieser Abend nur eine kurze Pause vom pandemischen Alltag ist.

Nerdpop, Chanson, Techno: Die musikalische Palette war vielfältig, typische ESC-Balladen in der Unterzahl. Und dennoch scheint die Auswahl zweigeteilt. Da gibt es die Progressiven, die in ihre Liedzeilen für Botschaften nutzen. So zum Beispiel die Kandidatin für Russland: Manizha. Die 29-Jährige stammt aus Tadschikistan, setzt sich für Rechte von Frauen und gegen Diskriminierung von Homosexuellen ein.

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In ihrem ESC-Song „Russian Woman“ geht es um veraltete Rollenbilder, kaputte Familien und Selbstliebe. Manizha wurde in den vergangenen Wochen massiv angefeindet. Auch die maltesische Kandidatin Destiny singt in einem Pop-Dancesong über ihren Körper, und dass sie nicht irgendwem gehört: „I am not your Baby“ wiederholt die 18-Jährige immer wieder.

Doch dann sind da auch jene Artist:innen, die nach wie vor die gängigen Erwartungen bedienen, Beats kopieren, Lady Gaga oder Coldplay nachahmen. Sie wurden auf hinteren Plätze gewählt. Den Live-Blog vom ESC zum Nachlesen finden Sie unter diesem Link.

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