Kehlmann, Nadolny, Bönt, Kracht und der historische Roman: Beknackt unter Palmen
Nadolny, Kehlmann, Kracht: Was historische Roman-Biografien zu Bestsellern macht.
Bei der Lektüre von Christian Krachts „Imperium“ stellen sich immer wieder Fragen. Was zum Beispiel soll der Auftritt von Thomas Mann, der hier August Engelhardt im ostpreußischen Memel bei der Polizei anzeigt, „da liege ein langhaariger Vagabund in den Nehrungen herum, splitterfasernackt“? Ein paar Seiten später kommt Thomas Mann wieder vor. Der Schriftsteller in spe und „Simplicissimus“-Lektor ist mit seiner Braut im Zug auf der Rückreise nach München, erkennt den wahren Grund seiner Anzeige (nackter junger Mann, mit „fast knabenhaften schmalen Schultern“) und macht sich bewusst, „dass sein gesamtes zukünftiges Leben von einer schmerzhaften Selbstlüge überlagert sein wird“.
Das klingt irgendwie lästerlich, und doch ist Krachts ganzer Roman zumeist in diesem geschraubten, altmeisterlichen Thomas-Mann-Ton gehalten. Verbeugung? Demaskierung? Ironie? Was sollen die Seifenblasen, die ein kleiner Junge in die Luft pustet, und „die sich auf Engelhardts Schultern niedersetzten, um dort ermattet und unspektakulär, gleich einer von einem zweitklassigen Romancier bemühten Metapher en miniature, ihr kurzes Laugenleben auszuhauchen“? Oder das Zeitintermezzo im fünften Kapitel, da es um das Sandkorn geht, das Engelhardts Uhr zwar nicht mehr als eine Sekunde am Tag nachgehen lässt, Engelhardt aber den „sicheren Halt im Raume“ raubt? Eine „Zauberberg“-Parodie?
Man könnte „dergestalt“ weiterfragen. Selbst die vielen Stellen, die anzeigen, dass Kracht sein Vorhaben, „auch die Zukunft im Auge“ zu behalten, den sich ankündigenden Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus, tatsächlich immer im Auge behält, helfen nur bedingt weiter, sich völlig im Klaren über den Roman und seine Form zu werden. Wozu nicht zuletzt der auktoriale, bisweilen in leutseliger Wir-Form, dann auch in der Ich-Form vorgehende Erzähler beiträgt. „Imperium“ ist vielleicht wirklich „eine große Schnurre“, wie es Krachts Verleger Helge Malchow diese Woche im „Spiegel“ geschrieben hat, eine Geschichte, die eigentlich alles ist, Comic, Märchen, Thriller, Tragödie. Aber dann auch ein Buch, in dem ein Schriftsteller nicht mit Literaturverweisen geizt, seine Belesenheit ausstellt. Nein, man weiß nicht so recht, wie viel „Schnurre“, wie viel historische Ernsthaftigkeit, wie viel Spielerei dabei ist – und doch hat man seinen Lesespaß, wird dieser seltsame, durchgeknallte Nudist, Vegetarier, Sonnen- und Kokosnussanbeter August Engelhardt zu einer interessanten, schillernden, am Ende sehr armseligen, den Roman trotzdem am Leben erhaltenden Figur.
Die von Kracht eingesetzten literarischen Mittel sind es indes, die Engelhardt erst interessant machen: Satire, Ironie. Sie halten die Figur auf Distanz, zoomen jedoch ihren Charakter, ihre Durchgeknalltheit schön heran. Auch Daniel Kehlmann hat in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ das Stilprinzip der Ironie angewandt. Mit der Doppelbiografie der Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß demonstrierte er elegant, wie nahe Genie, Alltag und Komik beieinander liegen – und machte das Leben seiner Helden so erst erzähl- und nachvollziehbar. Auf dass sich „Die Vermessung der Welt“ dann gleich anderthalb Millionen mal verkaufen sollte.
Ob Kracht es mit seinem „Imperium“ genauso weit bringt, sei dahingestellt, und auch der überwältigende Erfolg von Kehlmanns Roman ist bis heute nicht wirklich ausgedeutet. Für Autoren wie Leser muss es jedoch gleichermaßen eine große Versuchung sein, sich solcherart genialen, absonderlichen, glamourösen, oft nonkonformistischen Figuren zu widmen, Bücher über sie zu lesen, über sie zu verfassen, fiktive historische Biografien.
„So sehr Burton ein Zögling seiner Zeit war, seine Eigenwilligkeit, Sturheit und Flexibilität verhinderten, dass er zu einem Konformisten wurde“, nennt Ilija Trojanow unter anderem als Erklärung dafür, dass er sich für seinen Roman „Der Weltensammler“ des Lebens und der Reisen von Sir Richard Francis Burton annahm. „Die Verachtung, die seine Aufbrüche und Metamorphosen unter ,seinesgleichen’ provozierten, gehört zu der Geschichte dieses Mannes.“ Natürlich ragt das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert Burtons, in das 20. hinein. Was Trojanow zusätzlich reizte und nicht zuletzt dem Roman auf dem Buchmarkt den entscheidenden Schub gab, von wegen Globalisierung, ihrer Folgen, ihrer Präfigurationen.
Fiktive (fiktiv angereicherte, ausgelegte) Biografien wie über Burton, Gauß/v. Humboldt bekommen ihren Mehrwert, wenn sie mehr als eine Lebensgeschichte erzählen, sondern darüberhinaus auf soziale, politische Entwicklungen verweisen. So wie es Krachts offensichtliche Absicht ist. Vielleicht hat das geringe Echo auf Marc Buhls 2011 veröffentlichten Roman „Das Paradies des August Engelhardt“ damit zu tun, dass er zu nahe an seinem Helden dran ist, dessen Leben zu sorgfältig ausleuchtet. Buhl nimmt nicht ständig „die Zukunft ins Auge“, wie Kracht, was „Imperium“ auch unangenehm wissend-raunende Züge verleiht.
Selbst Patrick Süskinds Supererfolgsroman „Das Parfum“ ließ sich ja nicht nur als Kriminal- und Schauerroman im Frankreich des 18. Jahrhundert lesen, sondern auch als Kommentar zu totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Oder Sten Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“. In dessen Zentrum steht der bedächtige, begriffsstutzige englische Seeoffizier und Entdecker John Franklin, der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Arktis-Expeditionsreisen unternahm und in der Eiswüste starb. Nadolnys Roman übt auf der Folie von Franklins Geschichte Kritik an der Informationsbeschleunigung und Reizüberflutung in massenmedialen Gesellschaften. Auch bei Kehlmann deutet sich das NS-Unheil an, wenn von blutigen Experimenten von Humboldts die Rede ist, bei denen zwei Krokodile mit einem Rudel Hunde zusammengesperrt werden: „Natürlich hätten sie ihm leidgetan. Aber die Wissenschaft habe es verlangt, nun wisse man mehr über das Jagdverhalten der Krokodile. Außerdem seien es Mischlinge gewesen, unedel und ziemlich räudig.“
Und doch vermitteln diese fiktiven Biografien gleichfalls eine seltsame Geborgenheit, die zu ihrem Erfolg beiträgt. In weiter zeitlicher und räumlicher Ferne so nah, könnte man sagen. Die aktuell eigene Geschichte, die persönliche, politische, soziale, mithin also die Gegenwart, kann so ganz gut auf Abstand gehalten werden. Zudem ist das Identifikationspotential mit den realen historischen Figuren dieser Bücher zumeist ein kleines. Deren Lebensgeschichten sind abgeschlossen, einmalig waren sie auch. Trotzdem reicht es nicht, das Leben eines Sonderlings, Wissenschaftlers oder Gelehrten einfach nachzuerzählen, und schon springt das Publikum darauf an. Sondern der Stoff will gestaltet werden: mit Witz, ironischer Doppelbödigkeit, einer eigenen Sprache, einem ausgeprägten Formbewusstsein. Davon zu wenig hatte etwa Ralf Bönt 2009 mit seinem Roman „Die Entdeckung des Lichts“ über den Physiker Michael Faraday, in dem auch Gauß und von Humboldt einen Cameo-Auftritt haben. Bönts Roman wurde nicht mehr als ein Achtungserfolg. Oder Jo Lendles letztes Jahr veröffentlichter Roman „Alles Land“. Lendle erzählt darin die Lebensgeschichte des deutschen Polarforschers Alfred Wegener, erhielt wohlwollende Rezensionen, landete aber keinen Bestseller.
Wenn Christian Kracht sich doch noch einmal auf den Weg nach Deutschland zu einer Lesung machen sollte, wird er sicher nach dem Making-of von „Imperium“ gefragt. Wie er auf Engelhardt gekommen ist, was die literarischen Bezüge sollen, der Mann-Ton, beispielsweise. Kracht wird nicht alles beantworten. Nicht zuletzt das macht den Reiz seines Romans aus: dass Fragen offen bleiben, es Geheimnisse gibt, nicht alles erklärt werden muss. Und die Welt geht dann ja auch nicht gleich unter.
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