Berlinale Special: Beim siebten Mann wird alles anders
Matti Geschonnecks "Boxhagener Platz" mit Gudrun Ritter und Michael Gwisdek ist eine Hommage an Berlin und seine Stars.
Das waren Zeiten: Als der Boxhagener Platz eine einzige Spielwiese war, für Kinder wie Michael Gwisdek und Matti Geschonneck, die beide dort um die Ecke aufgewachsen sind. Ein Ort für Sandkasten- und Fußballspiele, ein Ort für erste Küsse, für ein unbeschwertes Kinderleben in Ost-Berlin. Leere Straßen, kaum Autos, stattdessen Pferdefuhrwerke, abblätternde Fassaden und eine Kneipe, die „Feuermelder“ heißt. Sie haben ihn auf dem Studiogelände in Babelsberg nachstellen müssen, diesen Boxhagener Platz der späten sechziger Jahre. Am heutigen Platz sieht nichts mehr so aus.
Selbst Doris Dörrie ist auf Marzahn gekommen, und auch „Boxhagener Platz“ ist ein Berlin-Film, wie er im Buche steht. Es ist ein Nostalgie-Unternehmen, diese Verfilmung von Torsten Schulz’ wunderbar leichtem Jugendroman „Boxhagener Platz“, der 2005 erschien. Ein Nostalgie- Unternehmen in zarten Braun-Grau-Tönen, für das Regisseur Matti Geschonneck unter anderen Gudrun Ritter und Michael Gwisdek aufgeboten hat.
Es ist mehr als ein Hauch von Defa um diesen Film, was hier durchaus positiv gemeint ist. Alles, was die Defa-Filme ausgezeichnet hat, ihre herausragenden Schauspieler, ihr zupackender Witz und ihre geduldige Aufmerksamkeit für alle, die auf der Schattenseite stehen, all das geriet nach ’89 zu Unrecht in Vergessenheit und steht nun zur Wiederentdeckung an.
Kein Wunder, dass derzeit, wo die Zeichen auf Krise stehen, gerade solche Werte eine Renaissance im deutschen Film erleben. Mit den Filmen von Andreas Dresen etwa, zuletzt „Wolke 9“, der drei Senioren in eine späte, komplexe, existenzielle Liebesgeschichte schickt. Aber eben auch mit einem Film wie „Boxhagener Platz“.
Auch hier geht es um Liebe im Alter, wenn auch eher komödiantisch, nicht so radikal wie bei Dresen. Oma Otti (Gudrun Ritter) hat fünf Männer ins Grab gebracht, der sechste liegt siechend im Bett, und schon stehen zwei weitere Kandidaten an der Tür: Fisch-Winkler (Horst Krause), dem man rund um den Boxhagener Platz nachsagt, dass er ein Altnazi sei, und Karl Wegener (Michael Gwisdek), der überzeugte Kommunist. Beobachtet wird das Treiben von Ottis Enkel Holger (Samuel Schneider), der vor seinen im Dauerclinch liegenden Eltern gern zur coolen Großmutter flieht, zu Karpfen, Gräupchen, Fleischrouladen.
Gudrun Ritter hält ihre drei Männer spielend in der Balance, mit einem schnoddrig-forschen Witz, der sich über alle Konventionen hinwegsetzt. Da ist durchaus Sentimentalität im Spiel, wenn sie angesichts des Gedichts „Das scheintote Kind“ in Tränen ausbricht und dann länglich auf dem Friedhof mit Karl debattiert, wie man wohl die Scheintoten aus ihren Gräbern retten könne. Wieder ausgraben? Gar nicht erst eingraben? Eine Klingel neben’s Grab? Überwachungskameras? Oder vielleicht sogar Sensoren?
Und Michael Gwisdek sekundiert ganz ausgezeichnet, in einer ungewöhnlich zurückgenommenen Rolle: Der Klassenclown des deutschen Films gibt den Alt- kommunisten und Ersatzvater für Holger mit stillem Idealismus. Hinzu kommt Jürgen Vogel als erfolgloser ABVer, kurz für Abschnittsbevollmächtigter, sprich KiezPolizist, und eine überragend gute Meret Becker als nervöse, es nur mühsam in den engen Grenzen der DDR aushaltende Bohèmienne: sehr apart, sehr fragil, sehr glaubwürdig.
Zwischen Grab und Grenze, Spielplatz und Stasi entwickelt sich eine vermeintliche Krimi-Geschichte, die bald zum Zeitkrimi wird. Studentenproteste in WestBerlin, Prager Frühling, das allgemeine Gefühl der Auflösung, das dann doch noch einmal, für zwanzig Jahre, unterdrückt und in Schach gehalten wird: Mit den Augen eines Zwölfjährigen wird das ganz wunderbar eingefangen. Ein zärtlicher Erinnerungsfilm, es geht nicht um Ostalgie, es geht um vergangene Jugendzeit. Und es darf auch gelacht werden.
Heute wäre Holger ein Erwachsener. Am Boxhagener Platz wohnt er bestimmt nicht mehr.
Heute 17.30 Uhr (Urania), 21. 2., 18.30 Uhr (Union Filmtheater)
Liebe zwischen Kohlrouladen:
Gudrun Ritter und Michael Gwisdek lassen es knallen