Silvesterkonzerte in Berlin: Beethoven und Böller
Profanes und Profundes, und am Ende wird auf gutes Wetter angestoßen: Die klassischen Jahresausklänge mit Berliner Symphonikern, Staatskapelle, Deutschem Symphonie-Orchester und Konzerthausorchester.
Same procedure as every year! Der Silvesterabend ist in der hauptstädtischen Klassikszene ja fast so durchritualisiert wie die Geburtstagsfeiern bei Miss Sophie. Grundsätzlich kann der geneigte Zuhörer wählen zwischen Profanem und Profundem. Einerseits geht es fledermäusig und lustigewitwig zu, andererseits steht ein gewisses Werk von Beethoven auf dem Programm oder aber Barockmusik. 42 Veranstaltungen verzeichnet das Tagesspiegel-„Ticket“ diesmal, mit deutlicher Dominanz bei den Orgelkonzerten. Kein Wunder, vermag sich die „Königin der Instrumente“ doch akustisch am ehesten gegen den Böllerbeschuss von draußen durchzusetzen. Schalltechnisch besser abgeschottete Räume brauchen dagegen die diversen Harfenistinnen, die zum Jahresausklang Zart-Kammermusikalisches darbieten.
Die Opernhäuser spielen das vermeintlich Lustigste aus ihrem Repertoire, die großen Orchester haben in ihrem ewigen Ringen um Unverwechselbarkeit das thematische Terrain klar abgesteckt: Staatskapelle und Rundfunk-Sinfonieorchester geben immer die „Neunte“, das DSO verbrüdert sich im Tempodrom mit dem Zirkus Roncalli, im Konzerthaus darf sich das Publikum aus einer Kompositions-Speisekarte sein individuelles Silvestermenü zusammenstellen. Und im Kammermusiksaal der Philharmonie spielen die Berliner Symphoniker.
Die Berliner Symphoniker im Kammermusiksaal
Seit ihnen der Senat die Zuschüsse gestrichen hat, geistern sie als Phantom der Orchester durch die Spielzeiten. Tausend treue Abonnenten machen es möglich – und die Stammkunden füllen auch die traditionelle Doppelvorstellung am 31. Dezember. Schon um 15 Uhr ist kaum ein Platz frei.
Obwohl die Symphoniker fürs heitere Potpourri zuständig sind, vermeidet Chefdirigent Lior Shambadal mit einem beherzten Kunstgriff allzu konventionelle Wunschkonzert-Ware. Stücke, die Frauennamen im Titel tragen, hat er ausgewählt, und moderiert sie auch gleich selber an, lakonisch und mit Sinn für Ironie: Da ist die männermordende Sárka aus Smetanas „Mein Vaterland“, dort geht es um Bellinis unkeusche Priesterin Norma, von Bizet gibt es mal nicht die Carmen, sondern die liebenswürdige Arlésienne. Olga, Alice, Eva und Alexandra flanieren vorbei, vorteilhaft in Dreivierteltakt gekleidet von Strauß und Lehár. Zum Höhepunkt aber wird ein Klassiker der Moderne, die Busenarie aus Francis Poulencs „Les Mamelles de Tirésias“, von der strahlenden Solistin Claire Meghnagi soubrettenkokett ausgereizt. Den klassischen K.u.K-Rausschmeißer schließlich tauft Lior Shambadal – wir West-Berliner sind hier ja unter uns – zum guten Schluss mal eben feinköstlich um: „Und jetzt alle mitklatschen beim Rogacki-Marsch!“ Frederik Hanssen
Daniel Barenboim und die Staatskapelle im Schillertheater
Es gehört zu Daniel Barenboims Inszenierung der Neunten von Beethoven, dass ein Moment der Andacht vor dem gespenstisch leisen d-Moll-Beginn steht. Das bedeutet Respekt vor der Kolossalschöpfung, nichts falsch Pathetisches. Es geht um das Misterioso einer Sinfonie, deren Klänge der Komponist nur noch innerlich vernahm. Ein Werk, dessen Uraufführung er dirigiert hat, ohne sie zu hören. Die Nummer eins unter den Lieblingen des Konzertpublikums, die für Trauer steht wie für Festlichkeiten, Ode an den geheimnisvollen, über Sternen thronenden Gott. Nicht ohne Rührung konnte man am Silvestertag auf Arte beobachten, wie in Osaka ein „Chor der 10 000“ unter Yutaka Sado mit zugeschaltetem Chor aus Sendai das Freudenthema am Ende des japanischen Katastrophenjahres singt.
Schillerwort im Schillertheater: Zum zweiten Mal begeht die Staatskapelle Berlin hier den Jahreswechsel. Barenboim ruft seine Erfahrung ab, sucht kein Röntgenbild der Partitur, eher ihre Aura, im Scherzo der punktierten Rhythmen mehr Paukendeutlichkeit als voriges Jahr, weites Adagio mit Konzentration auf die zweiten Violinen und Bratschen im zweiten Thema. Doch zielt die Aufführung vor allem aufs Finale. Neu im Solistenquartett ist Bassist Peter Mattei mit einer ungewöhnlich selbstständigen feinen Interpretation. Dass ansonsten Anstrengung dabei ist, lässt nicht nur der Staatsopernchor „über Sternen“ spüren, sondern auch der Dirigent. Aber es gelingt ihm, nach der genialen Melodik des dritten Satzes auch die trivialere zu integrieren in einen überwältigend brausenden Hymnus. Mehr Spannung war nie. Sybill Mahlke
Das Deutsche Symphonie-Orchester im Zirkus Roncalli
Aus Pannen entstehen manchmal die schönsten Geschichten. Vor acht Jahren hat das Tempodrom versehentlich den Silvesterabend doppelt gebucht – für den Zirkus Roncalli und das Deutsche Symphonie-Orchester. Was klingt wie ein Witz von Loriot oder eine Oper von Richard Strauss, ist wirklich passiert. Nach anfänglicher Diskussion haben sich die beiden zusammengetan und eine Tradition begründet. Das Programm ist gut austariert, Musik und Manege nehmen sich nichts weg. Nur bei den ganz spektakulären Nummern – wenn Wolfgang Lauenburger seine Hundemeute zum Tanzen bringt oder die Schleuderbrettartisten „Sokolov“ durch die Halle wirbeln – kann es passieren, dass man mal nicht so genau hinhört, was Dirigent Alan Buribayev dem Orchester entlockt.
Ansonsten versteht er es, die populären Stücke von Smetana, Grieg oder Glinka spritzig und schmissig zu interpretieren, ihren individuellen Charakter herauszukitzeln. Schwierig bleibt die Akustik im Tempodrom trotzdem, weil sie vor allem den Bläsern und dem Schlagwerk entgegenkommt und im Forte schnell zu einem dunkel raunenden Klangbrei führt. Deswegen wird auch Trompeten-Solist Sergei Nakariakov elektronisch verstärkt. Hermann Bellstedts Verzierungen des alten Volksliedes „Napoli“ beherrscht er mühelos – was allerdings bei ihm auf Kosten des Ausdrucks geht, pauschal und brüchig ist der Klang. Erst bei Bachs langsamem „Air“ aus der Orchestersuite Nr. 3 zeigt Nakariakov, dass er auch Substanzielleres zu sagen hat und sich gut einfügen kann in diesen poetisch funkelnden, intelligenten und witzigen Abend, der völlig pannenfrei über die Bühne geht. Wäre aber auch nicht schlimm gewesen. Was daraus Tolles entstehen kann, wissen wir ja. Udo Badelt
Das Konzerthausorchester am Gendarmenmarkt
Seine Landesleute, findet „Russendisko“-Autor Wladimir Kaminer, sind ein fatalistisches Volk. Sie nehmen alles hin, wie es kommt. Manchmal aber gibt es auch Überraschungen – etwa nach gefälschten Wahlen, wenn plötzlich Proteste aufflammen. Oder beim Musizieren, wie jetzt beim – von Kaminer moderierten – Silvesterkonzert am Gendarmenmarkt. Dmitrij Kitajenko jedenfalls lässt das Konzerthausorchester Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“-Ouvertüre mit einer Energie in den Saal schmettern, die eher vom Kampfgeist als von Nächstenliebe beseelt ist. Der weißhaarige Mann am Pult, der sich die Puste aus dem Leib dirigiert, hat es auf Kontraste abgesehen: zwischen Forte und Piano liegen in seinem Taktschwung Welten.
Auch Pianistin Lilya Zilberstein will den Abend nicht den Böllerwerfern überlassen. Sie entscheidet sich für harte Tastenanschläge und findet deshalb in Rachmaninows „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ zunächst nicht das ausgewogene Tempo, um die rasanten Synkopen mit dem Orchester zu vereinen. In den weiteren Variationen dreht sich der Spieß jedoch um: Die Läufe werden immer konzentrierter, so dass der Russin ein fulminantes, dicht gedrängtes Finale glückt. Dem exzellenten Konzerthausorchester gelingt es anschließend, Tschaikowskys „Nussknacker“-Suite mit präziser Artikulation auszubalancieren. Besonders die Bläser beweisen in den Höhen tonmalerisches Feingefühl. So sicher soll das Jahr allerdings nicht enden. Nach der Zugabe, sagt Wladimir Kaminer, müsse man, der russischen Tradition gemäß, auf gutes Wetter anstoßen. Also her mit dem Krimsekt! Tomasz Kurianowicz