Minderheiten: Bautzen und die Sorben
Milena Vettraino hat die Welt kennengelernt und ist nun nach Bautzen zurückgekehrt. Dort hat sie Großes vor: Sie will der sorbischen Minderheit endlich auf die Sprünge helfen
Es ist verwirrend. Wer durch die Bautzener Innenstadt geht, läuft durch verwinkelte Gassen, an schiefen Häusern vorbei, und überall gibt es zweisprachige Schilder. So als würde man die Menschen langsam darauf vorbereiten, dass 50 Kilometer entfernt Polen beginnt. Nur, was sich beim ersten Hinhören wie Polnisch anhört, ist Sorbisch, eine slawische Sprache, die von einer Minderheit in und um Bautzen gesprochen wird. Witajce k nam! Herzlich willkommen!
Sie kamen vor über 1400 Jahren - und behielten ihre Sprache bis heute
Von den 40 000 Einwohnern der Stadt gehören nur zehn Prozent zur westslawischen Volksgruppe. Sie wanderte vor über 1400 Jahren aus Böhmen und Schlesien ein, ihre Sprache behielt sie über die Jahrhunderte bei, ebenso ihre Folklore. In Südbrandenburg leben die Niedersorben, in Ostsachsen die Obersorben, ihre Hauptstadt ist Bautzen. Zusammen kommen beide Gruppen auf 60 000 Menschen. Sorben sind eine anerkannte Minderheit mit Verfassungsrang – wie zum Beispiel auch die Friesen. Das heißt, die Bewahrung ihrer Kultur ist von höchster Stelle abgesichert. Das galt auch bereits in der DDR.
Die politische Bedeutung der westslawischen Volksgruppe ist groß. Nicht nur die Bautzener Landtags- und Bundestagsabgeordneten sind Sorben, auch der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU). Es gibt zweisprachige Straßennamen und Behördendokumente in doppelter Ausführung.
Milena Vettraino, die neue Intendantin, will das Nebeneinander der Volksgruppen auflösen
Nur kulturell wird die Volksgruppe kaum wahrgenommen. Milena Vettraino will das ändern. Die beiden Volksgruppen, die deutsche Mehrheit und die sorbische Minderheit, leben einträchtig nebeneinander. Vettraino findet, zu sehr neben- statt miteinander. Die 41-Jährige mit den rotblonden Haaren und den wachen Augen ist die neue Intendantin des Sorbischen Nationalensembles (SNE), eines 100-Leute-Betriebs mit Ballett, Chor und Orchester. Sie will eine eingeschlafene Minderheit wecken, der Stadt ein sorbisches Gesicht geben.
Die Intendantin spricht von einer Mauer zwischen Sorben und Nichtsorben in Bautzen. Sie erklärt ausführlich, was sie meint, redet von Sich-Einigeln, von gegenseitigem Desinteresse. Besser verständlich wird das in der Kirche. Man muss dafür das Linoleum des SNE verlassen, durch die Gassen gehen, an einem Senfladen vorbei. Am Ende steht man vor dem Dom, in dessen Inneren die Teilung plastisch wird: in Form eines Zauns.
Der St.-Petri-Dom erhebt sich über die hügelige Stadt, ein Sakralbau mit geschundenen Ziegeln. Der Zaun steht im Innenraum der Kirche, versehen ist er mit einer kleinen Metalltür. Auf der einen Seite beten die Protestanten, auf der anderen die Katholiken, zu Letzteren zählen die meisten Obersorben. Von den Simultankirchen, zwei konfessionelle Gotteshäuser in einem, wie der im 13. Jahrhundert errichtete St.-Petri-Dom eines ist, gibt es nur wenige in der Welt. Während der Reformation wurde die Mauer gebaut. Dass sie inzwischen durch einen Zaun ersetzt wurde, wird in Bautzen als großer Fortschritt verstanden.
Das gegenseitige Misstrauen nervte Vettraino
Milena Vettraino kennt den Abstand, den die Volksgruppen voneinander haben, allzu gut. Geboren wurde sie in einem Dorf bei Bautzen, Deutsch lernte sie erst in der Schule. Immerhin, denn umgekehrt kommt es für die meisten Lausitzer nicht infrage, Sorbisch zu lernen. Die gegenseitige Ignoranz, das Misstrauen, das alles nervte Milena Vettraino, zu provinziell, zu miefig, fand sie. 1988 flüchtete sie über Ungarn in den Westen, später machte die gelernte Hornistin international Karriere als Musikerin. Sie lebte in den USA und Dänemark, heiratete in Italien, ließ sich scheiden und besitzt bis heute eine Olivenplantage im Mezzogiorno. Nach Bautzen kehrte sie zurück aus „Liebe zur Heimat“, sie sagt es, als wäre es nichts Besonderes für eine Kosmopolitin.
Die Zuneigung ist erklärbar. Bautzen hat wenig gemein mit den sich aneinanderreihenden Mittelstädten der sächsischen Tiefebene, die kurz vor Bautzen endet. Die Stadt feierte 2002 den 1000. Jahrestag ihrer ersten urkundlichen Erwähnung als Budusin. Bis heute protzt der Ort mit historischer Substanz, zum Beispiel mit böhmischem Barock am Domstift. Oder mit dem Matthias-Rex-Relief am Matthiasturm. Es ist zu sehen an der monumentalen Ortenburg, im 15. Jahrhundert wurde sie auf einem Felsen gebaut, an drei Seiten von der Spree umflossen. So schön ist das Relief, dass es in Budapest 1930 kopiert wurde und dort in einem Kloster zu besichtigen ist. Der Wendische Turm. Der Nicolaifriedhof. Und am Ende der Fußgängerzone der Reichenturm aus dem 15. Jahrhundert. Er beugt sich ein wenig zur mittelalterlichen Stadtmauer, die sich an seiner Seite anschließt. 81 Zentimeter beträgt die Neigung, ein beliebtes Fotomotiv.
Die Sorben redeten den russischen Soldaten die Rachegelüste aus
Die Sorben haben das nicht alles gebaut, aber sie haben ihren Anteil daran, dass es erhalten blieb. Dass Bautzen im Zweiten Weltkrieg nicht wie das nur 60 Kilometer westlich gelegene Dresden in Schutt und Asche gebombt wurde, habe auch daran gelegen, dass die russischen Kriegsgegner die Stadt mit dem slawischen Brudervolk verschonen wollten, erzählt Milena Vettraino. Demnach sind sorbische Mütter mit ihren Kindern den russischen Soldaten bei Kriegsende vor der Stadt entgegengekommen, um ihnen die Rachegelüste auszureden. Sie hatten Erfolg. Die Legende ist nicht verbürgt, aber die Sorben erzählen sie gerne.
Zum Mittagessen führt die Intendantin ins Wjelbik, ein traditionelles sorbisches Restaurant, auch hier viel Stein, es erschlägt einen fast. Die Kellnerinnen tragen die sorbische Tracht, das rot-weiße Kopftuch. Besitzerin Veronika Malinkowa führt das Lokal seit 1991, neuen Gästen reicht sie zur Begrüßung Brot und Salz. Die Wirtin mit dem rundlichen Gesicht lacht ständig, selbst wenn sie klagt. Was macht die Sorben aus, Frau Malinkowa? „Wir sind einfach bodenständig“, sagt sie. „Und wir zeigen unser Herz.“ Irgendwie slawisch, meint sie.
Kämpfe mit sorbischen Kulturschaffenden
Da ist aber eine andere Sache, die manchmal etwas nerve. Vor vielen Jahren gestaltete Veronika Malinkowa das Restaurant um, sie öffnete die ehemalige SNE-Kantine allen Bürgern, setzte ein neues Fenster ein, damit mehr Licht in den Gastraum einfiel. Viele Stammgäste kamen nach der Renovierung nie wieder, es war ihnen alles zu anders, nicht mehr exklusiv genug. Die Intendantin nickt, man kann das wohl mit „typisch Sorben“ übersetzen.
Vielleicht erinnert sich Milena Vettraino in diesem Moment an die Kämpfe, die sie in den vergangenen Monaten mit sorbischen Kulturschaffenden führte. Als sie erklärte, dass das SNE sparen muss. Dass es nur noch halb so viele internationale Tourneen geben soll, da seien sowieso nur irgendwelche Kindermusicals gespielt worden. Vettraino hält nicht viel von Kindermusicals. „Was ich hier durchgemacht habe, das halten nicht viele aus“, sagt sie. Dabei gehe es ihr doch nur um simple Sachen. Das SNE soll wieder präsenter in Bautzen werden, es soll sich modernisieren. Es soll das Image der Stadt prägen, nicht nur das der Sorben. Die Mauer soll weg.
Tatsächlich könnte der Stadt ein neues Image guttun. Doch Milena Vettraino hat sich schwere Gegner ausgesucht. Denn Bautzen ist bis heute Synonym für etwas anderes: die Haftanstalt für politische Gefangene der DDR.
Mit Bautzen verbinden viele vor allem das Stasi-Gefängnis
Heute heißt sie neutral Gedenkstätte Bautzen. Der Komplex steht in einem Wohngebiet am Rande der Innenstadt. Die Außenmauer ist lang und fast unscheinbar, in der DDR galt sie als unüberwindbar. Bevorzugt Regimegegner oder solche, die dazu erklärt wurden, kamen hierher. Das Gefängnis hatte vor 1989 sowohl inner- als auch außerhalb des Landes den Ruf, der schlimmste Knast auf ostdeutschem Territorium zu sein. Eigentlich sind es zwei Gefängnisse, Bautzen I und Bautzen II, „Gelbes Elend“ (so genannt wegen der gelben Klinkermauer) und Stasi-Knast, zwei Außenstellen des Schreckens.
Auch deshalb steuern Reisebusse regelmäßig die Stadt an. Ende Dezember wurde der 100 000. Besucher in der Gedenkstätte begrüßt, es war eine Bautznerin. Dabei heißt es, wären die Bautzner froh, wenn dieses Kapitel der Geschichte in Vergessenheit geriete.
Vielleicht gelingt es Milena Vettraino, den Knast zu verdrängen, dass irgendwann wieder von der Sorbenstadt Bautzen gesprochen wird. Und vielleicht denken die Lausitzer bald wie die Intendantin, dass Sorbischkenntnisse sinnvoll sind, als Schlüssel zu anderen slawischen Sprachen. Sie will es mit ihrem SNE lustvoll, nicht aufdringlich, versuchen. Sie demonstriert am Tisch die Melodie des Sorbischen, spricht das sorbische A, dann eine Silbe, die sich wie ein sehr sächsisches „Sau“ anhört, wiederholt sie so oft, bis man sie nachsprechen kann. Klingt gut. Man sollte bei der Übung jedoch auf keinen Fall essen.
In Bautzen eröffnen wieder sorbische Restaurants
Ein Verbündeter Vettrainos ist Jurij Wuschansky, im Anzug und mit sanften Schritten stößt er im Wjelbik zu Milena Vettraino, lädt ein zum gemeinsamen Stadtrundgang. Der ehemalige Sänger am SNE und spätere Hörfunkjournalist ist mittlerweile Referent für kulturelle Angelegenheiten beim Bund Lausitzer Sorben. Vor allem kennt der 1951 in einem Dorf bei Bautzen Geborene die Bautzner und die Sorben wie kaum ein anderer. Milena Vettraino ist für ihn eine Hoffnungsträgerin, Repräsentantin einer neuen selbstbewussten Generation von Sorben.
Wuschansky zeigt das Restaurant Culinarium in der oberen Altstadt, es wurde kürzlich von einem jungen Sorben eröffnet. Aus dem Fenster blickt man auf die Mönchskirchenruine, in deren Inneren ein Einfamilienhaus mit Kräutergarten steht, im 17. Jahrhundert war dort eine Obdachlosenunterkunft. Im Culinarium geht es funktional zu, etwas kühl, sehr modern. Sorbische Spezialitäten wie gekochte Ochsenbrust gibt es, außerdem internationale Küche. Wuschansky freut sich über die Gaststätte sehr. Für ihn ein Zeichen, dass die Sorben der Stadt nicht nur zur Geschichte beitragen, sondern auch zur Zukunft.
Lange genug musste Wuschansky zuschauen, wie Bautzen und damit das sorbische Erbe langsam zerbröckelten. Ein paar Meter entfernt vom Restaurant steht ein Wohnblock, der zu DDR-Zeiten fast verschwunden war. Er sackte ab, weil sich unter dem Haus ein Hohlraum auftat. Auch der Rest der Stadt war in einem desolaten Zustand, erinnert sich Wuschansky. Vielleicht 60 Prozent der Innenstadt, sagt er, waren überhaupt noch bewohnt, der Rest war baufällig. „Die Wende kam für uns gerade noch rechtzeitig.“
Zum Abschluss des Spaziergangs geht es auf den Nicolaifriedhof. Wieder eine malerische Ruine, etwas versteckt bei der Stadtmauer, hinter dem Nicolaiturm. Von oben blickt man auf die Spree, die bei Hochwasser regelmäßig die im Tal gelegenen Häuser heimsucht. Der Friedhof, die Vergänglichkeit, die Sorben. Von diesem Bild will Wuschansky nichts wissen, genauso wenig wie die Intendantin, die hier oft Entspannung sucht. Statt an das Sterben der Sorben denkt sie an neue Wege. Sie will mehr Deutsche im Theater einstellen, mit einer Imagekampagne das konservative Bild modernisieren – und mithilfe des Hip-Hop. Ein junger sorbischer Rapper hat sich kürzlich bei ihr gemeldet, ein begabter Musiker. Er soll bald am SNE unterrichtet werden. „Wir müssen uns um unseren Nachwuchs kümmern, sonst haben wir keine Chance.“
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