Kultur: Backen ohne Seel’
Der Wiener Wald im Plänterwald: Christoph Marthaler inszeniert Horváth an der Volksbühne
Fern in Sao Paulo hatte auch Frank Castorf an diesem Donnerstag Premiere. Der Volksbühnen-Comandante brachte ein brasilianisches Stück („Schwarzer Engel“) mit Heiner Müllers „Auftrag“ zusammen. Währenddessen pflegt daheim am Rosa-Luxemburg-Platz Christoph Marthaler die wahre Exotik. Er lässt die „Geschichten aus dem Wiener Wald“, das österreichischste aller Horváth-Stücke, mit Schweizern in fast allen Hauptrollen spielen. Und Bühnenbildnerin Anna Viebrock setzt noch eins drauf. Links ist man in Wien, mit dem Nostalgiekino Belaria, dem Zauberladen und dem Trafik-Geschäft, rechts in Berlin mit Biergarten und Schultheis-Reklame. Also halb Backhendl, halb Broiler.
Wie man es auch nimmt, es schmeckt an diesem Abend alles recht gut abgestanden – die Komik, die Tragik, das kurze Glück und das lange Elend dieser unbehausten, heimatlosen Typen. Die Spielfläche zwischen den trostlosen Häuserzeilen: ein weites Niemandsland. Eine riesige Ausnüchterungszelle. Als Marthaler fast auf den Tag genau vor zehn Jahren am Hamburger Schauspielhaus „Kasimir und Karoline“ als grausames Menschenexperiment zelebrierte, war dies eine epochale Tat. So unerbittlich, politisch und von jedem alpenländischen Süßstoff befreit hatte man Horváth noch nicht gesehen, außer vielleicht – aber das liegt bald ein halbes Menschenleben zurück – einmal bei Grüber. Marthalers „Kasimir und Karoline“ mit Josef Bierbichler (man kommt nicht umhin, sich zu erinnern) war eine einzige, unaufhaltsame Enthemmung. Besäufnis bis aufs Blut.
Jetzt aber läuft der Film rückwärts. Im Wiener oder Plänterwald werden die Leut’ immer trockener, einsilbiger, trister. Sie demontieren einander. Sie machen sich dumm. Das ist inzwischen das Hauptproblem fast aller Marthaler-Sitzungen: Kluge, witzige Schauspieler zeigen ganze oder halbe Deppen, und das ist auf Dauer gar nicht mehr so klug und witzig.
Man sollte hier auf Stefan Kurt achten, er gehört nicht zur verschworenen Marthaler-Familie. Er spielt den Zocker und Herzensbrecher Alfred: Wie er nach kurzer Karriere als Schwerenöter nachher verschwindet in der eigenen Physiognomie, plötzlich mit Bärtchen und Brille, das ist schon ein Drama für sich. Auch das so kurze und später so teuer bezahlte Sich- Aufbäumen und Ausbrechen der drallen Marianne von Bettina Stucky ist eine Kurzgeschichte, die Eindruck macht. Ihr mutiger Monolog an der Rampe, vor den Toren des Viebrock’schen Zirkus, schneidet einem ins Herz. Weil man ja weiß, dass sie da auch schon wieder eine Verlassene ist, die alles verliert, ihre Liebe, ihr Kind, und die den Mann bekommt, den sie nicht will – den Oskar.
Ihn, den Fleischer, bringt Ueli Jäggi so blutleer und stumm wie nur möglich. Als Stan-Laurel-Figur am Rande der Lächerlichkeit, dröhnend flankiert vom „Zauberkönig“ Josef Ostendorf, seinem dicken Nachbarn und Kumpel Oliver Hardy. Einmal liegt er am Boden und kommt kaum mehr hoch, wie eine auf den Rücken gedrehte Riesenschildkröte. Ein passendes Bild: Das Arrangement bleibt flach, dieser Horváth hat weiche Knie, niedergedrückte Männer und Frauen schleppen sich über die Runden. Und was sie so klein und mies bürgerlich macht, so gemein und wiederum auch nicht gefährlich, das weiß keiner nicht. Die Verhältnisse halt – aber welche? Bezahlt wird aufdringlich auffällig mit Euro, und weiter? Der Zauberladenbesitzer sagt einmal, dass er die Supermärkte spürt: Ist das alles?
Sie sind langweilig und ausrechenbar: die Ladenhüterin Valerie (Katja Kolm), die sich gern von jedem in den Ausschnitt gucken lässt; der grenzdebile Rittmeister von Matthias Matschke, der, wie stets bei Marthaler, nur auf sein Solo wartet (ein kleiner Striptease überm Stehtisch), der krachblöde deutschnationale Jurastudent von Marc Hosemann (wären doch nur alle Neonazis so leicht einzufangen, wir hätten keine Sorgen!) Und hinten dösen die Alten und riskieren hin und wieder einen Spruch, weil früher (in der DDR, in West-Berlin, im k. u. k Reich) alles besser war. Auch die Marthaler-Witze.
Der Ausflug in den „Wiener Wald“ dauert an die vier Stunden, und noch das Baden in der Donau (Spree?) ist ein freudloses Trockenschwimmen, wobei man froh sein kann, dass sich nicht alle ausziehen, wie Ostendorf fordert. (Stefan Kurt macht die alte Jango-Edwards-Nummer mit der weggeklemmten Zauberflöte.) Und selbstverständlich hocken sie alsbald wieder auf der langen Bank, diese Mitteleuropäer, die sich am gründlichsten immer noch selbst abmurksen, ohne Ausländer und Fremdberührung. Und als sei es gottgegeben, singt und brummt das zusammengedrängte Häuflein vor sich hin, mit starrem Blick ins Leere.
Diesmal ist auch Marthalers musikalisches Füllhorn nicht sehr prall. „The Pain of Loving You“, ein herziger Country- Song, „Nights in White Satin“ als Abtörner, und „Wien, Wien, nur du allein“ klingt nur noch nach Todesverachtung, sie singen es mit zusammengepressten Lippen, als käme gleich der Zahnarzt. Wie kann man ihnen nur helfen?
Sind sie überhaupt noch unter uns? Auf dem großen doppelflügeligen Tor, das die Hinterwäldler einschließt, steht etwas geschrieben. Kein Ausschank mehr seit Mai 2005 (?) Dann wäre dieser „Wiener Wald“ ein Sackbahnhof, ein Totenreich. Aber selbst dann, und dann erst recht: Können diese Menschen, wenn sie denn ihr schnödes-blödes Leben hinter sich haben, nicht endlich damit aufhören, sich dümmer zu stellen, als sie sind?
Wieder heute und am 9. und 19. 12.
Rüdiger Schaper
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